I wollt nur mal nach dir schau'n

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Um halb vier wählt Alfred die Nummer, die er bei Notfällen immer wählt. Es tutet genau dreimal, bevor jemand abnimmt.
"Was macht man, wenn man von Toten ang'rufen wird?" presst Alfred ins Telefon, bevor ihm irgendwer einen Gesprächsanfang vorwegnimmt.

"Aufwachen." sagt Selma und lacht. Als sie fertig ist, seufzt sie jedoch.

"Ist es das denn wirklich wert, mich zu solch gottlosen Zeiten anzurufen?"

Alfred nickt und zieht sich die Bettdecke bis zum Kinn. Den Telefonapparat hat er bis in sein Schlafzimmer getragen und inzwischen ruht dieser auf seinem Schoß. "Selma, ich glaub ich verlier den Verstand." beichtet er der Frau, die seit Kindestagen seine beste Freundin ist.
"Ach Alfie, das stimmt doch gar nicht." versichert sie ihm. "Du schläfst nur zu wenig."

"Nein ich mein's ernst! Mich kannst einliefern lassen! Ich bin mir sicher, dieser Schönling vom Trafik hat mich gerade angerufen und erzählt, er sei abgekratzt." Alfreds Stimme überschlägt sich fast und er traut sich kaum übers Flüstern hinaus. "Was mach ich denn jetzt?"

"Du beruhigst dich erstmal." antwortet Selma. "Mach dir ne Tasse Kaffee oder Tee oder irgendwas und fahr die Nerven runter. Du hast wahrscheinlich nur schlecht geträumt. Das oder der Kerl will dich auf's Korn nehmen."

Alfred schüttelt eifrig den Kopf. "Hab ich nicht! Ich träum nie so an Quatsch! Ich weiß doch, dass ich aufg'standen bin. Jetzt glaub's mir doch!"

Selma seufzt erneut. Sie hat sich schon immer Sorgen gemacht um ihn. Alfred lässt einem auch reichlich Raum dazu. Er isst zu wenig, er findet keinen Schlaf, wenn er nicht in der Uni ist, hockt er den ganzen Tag in seiner Wohnung und kritzelt vor sich hin, als hinge Leben und Tod davon ab. Dabei vergisst er Raum und Zeit und auch entfällt ihm des Öfteren die Tatsache, dass er Teil der Menschheit ist. Die Mentalität eines modernen Künstlers ist also durchaus vorhanden und Selma ist der dünne Strich an Vernunft, der ihn davon abhält, sich das Ohr abzuschneiden.

"Du solltest jetzt wirklich schlafen." findet Selma. "Behalte das Telefon am besten bei dir, dann kannst du anrufen, wenn wieder was passiert."

Alfred nickt langsam. Gerne würde er Selma noch etwas länger am Telefon behalten und ihre Stimme hören. Das ist das Einzige, was ihm in solchen Zeiten noch Sicherheit bietet. Aber Selma klingt müde. Wahrscheinlich würde Selma jetzt am liebsten weiterschlafen.

"Gut." bringt Alfred hervor und er zupft nervös an der Telefonschnur. Sein Blick heftet sich an die Schlafzimmertür, die einen Spalt offen steht, und durch den das Licht der Küche hereindringt.

"Gute Nacht, Alfie." sagt Selma weniger beiläufig als es die meisten Leute sagen würden.

"Schlaf gut." antwortet Alfred und bleibt noch lange so sitzen, mit dem Telefonhörer am Ohr, auch als Selma längst aufgelegt hat.

Er starrt weiter den Spalt zwischen Tür und Türrahmen an, durch den das Licht fällt. Der Spalt wächst, er scheint immer größer zu werden, dabei bewegt sich die Tür kein Stück. Alfred fängt an, die Dinge doppelt zu sehen, die Welt verschwimmt vor seinen Augen. Er schüttelt hastig den Kopf und würde sich nicht wundern, wenn sein Hirn dabei in seinem Schädel hin und her rattern würde. Seine Augen brennen und es ist, als habe sich eine träge Schwere unter seine Lider gelegt.

Er wird diese Nacht ganz sicher keinen Schlaf mehr finden.

Alfred wirft die Decke zurück und kratzt sein müdes Dasein von der Matratze auf. Er öffnet die Tür selbst. Das Telefon trägt er bis in die Küche hinter sich her. Auf einer Schrankfläche neben der Herdplatte stellt er es ab.

Die Stille der Küche wird erfüllt von dem widerwilligen Gekreische der Kaffeemaschine. Alfred starrt das Gerät an, schaut dabei zu, wie die kotzbraune Flüssigkeit in eine Tasse gluckert. Die Tasse muss einmal weiß gewesen sein, Alfred kann sich nur nicht mehr daran erinnern, wann das gewesen ist und auch nicht daran, woher der Sprung am Tassenrand stammt.

Keine Ruhe in Frieden [Roman]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt