epulum funebre

23 1 0
                                    


In einem mit Wolken ausgestatteten Raum sitzt ein Mann an einer langen Speisetafel. Der durchschnittliche Betrachter würde behaupten, es handle sich um einen sehr alten und würde damit Recht behalten. Ein langer weißer Bart wallt sich wie Zuckerwatte von seinem Kinn bis über den Bauch. Tiefe Furchen durchziehen das bronzen glänzende Gesicht, ähnlich einer zerklüfteten Berglandschaft.

Es geht hier um Abraham.
Der Abraham, der sich unwissentlich einem göttlichen Test unterzogen hatte, denn der Herr musste unbedingt in Erfahrung bringen, ob der ohnehin schon sehr gottestreue Mann dazu fähig wäre, auf Gottes Befehl seinen eigenen Sohn zu töten. Tatsächlich führte Abraham an einem Tag seinen nichts ahnenden Sohn Isaak einen Hügel hinauf, wo er dem Herrn geopfert werden sollte. Nun, wie man weiß, endet die Geschichte mit einem Happy End: Kurz bevor Abraham diese grauenhafte Tat vollbringen soll, wird er von Gott gestoppt, denn der hatte nun seinen Beweis für Abrahams Gehorsam.
Und Abraham, der seine äußerst fragwürdige Tat niemals hinterfragte, pflegte immer einen ausgewachsenen Stolz für seine Beziehung zu Gott, die interessanterweise so viel persönlicher wirkt, als es die meisten Menschen erfahren.

Nur seit längerer Zeit zweifelt der Erzvater Abraham daran, ob es das alles denn wirklich wert gewesen war.

Er sitzt am Ende der Tafel, die noch mit benutztem Geschirr und Besteck dekoriert ist, und hält sich ein Kühlpad an die Stirn, da dort momentan ein gehässiger Kater herumtrampelt. Jedes Mal, wenn ein Mensch in den Himmel kommt, steht ihm die Ehre zuteil, von Abraham zu einem Festmahl eingeladen zu werden. Man sitzt dann bei ihm, so wie der arme Lazarus, der im Himmel für sein ärmliches Leben und die Zurückweisung der Reichen entschädigt werden sollte. Oder, wie Martin Luther es übersetzte: Auf Abrahams Schoß, wobei man hier beiläufig erwähnen dürfte, dass Luther bei seiner Ankunft im Himmel tatsächlich fest darauf bestand, auf den Schoß genommen zu werden.

Abraham war zu recht nicht sonderlich davon begeistert, jemanden bei sich sitzen zu haben, der zu Lebzeiten so furchtbare Dinge über Juden geschrieben und damit einen weiteren Stein in der Treppe des europäischen Antisemitismus bildete, die unmittelbar in den Nationalsozialismus reichte. Aber jemand, der bereit gewesen wäre, sein eigen Fleisch und Blut für Gott zu töten, dem wird wohl nicht arg danach sein, diesen Gott zu hinterfragen.
Abraham ruft einen Engel zu sich, er solle ihm eine Wärmflasche bereit tun, der Rinderbraten der letzten Feier wäre ihm nicht gut bekommen. Der Engel verbeugt sich und flattert eilig davon.

Da blickt der alte Mann auf und erkennt jemanden am anderen Ende des Raumes. Eine Person, die recht unsicher umherwandert. Abraham will gerade wieder nach dem Engel rufen, da ihm laut seines Stundenplans momentan keine Besuche angemeldet sind. Heute war noch niemand in den Himmel gekommen. Der Engel ist noch immer fort, deshalb entscheidet sich Abraham, spontan zu agieren:

"Hey! Du da drüben!"

Aufgeschreckt schaut die Person auf. Es ist ein hellhäutiger, junger Mann.

"Oh äh, verzeihen Sie." stammelt er irritiert. "Ich hab mich wohl vertan. Hier gibt's so viele Türen..." Er will schon wieder einen Schritt davon machen und verschwinden.

"Halt Moment! Geh doch nicht weg. Komm her, Junge!"

Der junge Mann bleibt überrascht stehen und schaut verwirrt zu dem deutlich älteren Herrn, der an der Tafel sitzt und aufmunternd auf den Platz am Boden neben ihm klopft. Zögerlich geht er auf die große Tafel zu. Im Vorbeigehen sieht er dort ausgetrunkene Weingläser, aufgestapelte Teller verziert mit übrig gebliebenen Hühnerknochen und Salatblättern sowie überkreuz liegendes Besteck.

"Wie heißt du, mein Sohn?" fragt Abraham.

"Alfred." sagt der Mann brav und setzt sich unbeholfen an die Tafel.

Keine Ruhe in Frieden [Roman]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt