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Ich schrecke aus einem traumlosen Schlaf hoch, als ich unter mir ungewohnten Lärm höre. Eine Mädchenstimme vermischt sich mit der einer Männerstimme. Ben und Lita die im Flur über irgendetwas diskutieren. Ich stöhne und strecke mich ein Mal ausgiebig. Ich weiß nicht, wie lange ich gedämmert habe, doch das Licht dass durch die mittlerweile freien Fenster fällt, ist gleißend hell. Dank der vertrauten Umgebung weiß ich sofort, wo ich bin und drehe mich dem vertrauten Knarren suchend zur Türe um. Früher waren häufig meine Pflegegeschwister gekommen, um mich zu nerven oder Ben hatte mich für die Schule geweckt. Ich war nicht gerne dorthin gegangen, weil ich es schwer hatte Freunde zu finden und die Geräuschkulisse es mir beinahe unmöglich gemacht hatte, mich zu konzentrieren. Doch dank Karin und sehr viel Arbeit an mir selbst, hatte ich irgendwann genug Verhaltensmethoden entwickelt, um mich durch das Gymnasium und jetzt durch die Uni zu schleppen. In mitten so vieler Menschen zu sein, verlangt mir noch immer jeden Tag viel ab, doch für ein Studium ist das unumgänglich.

Und Karin ist es jetzt auch, die mit einer Tasse in der Hand in meinem Türrahmen steht. „Das ist ein Anblick, den ich wirklich vermisst habe.", begrüßt sie mich und setzt sich mit einem Schmunzeln an meine Bettkante. „Einen verwahrlosten Teenager unter deinem Dach zu finden? Das hast du vermisst?", frage ich schlagfertig und greife nach der Tasse, die sie mir hinhält. Ich schnuppere daran und rieche statt dem erhoffen Kaffee einen gut gezogenen Schwarztee. Karin war immer schon die gesündere in der Familie. Das und ihren Genen sei Dank sieht sie immer noch selbst aus als könnte sie eine Reihe Kinder zur Welt bekommen. Ihre Augen sind dunkelbraun und passen gut zu ihren frisch geflochtenen Braids, die sie mit einigen goldenen Perlen geschmückt hat. Ihre Haut ist dunkel und hat ein Schimmern wie man es nur von viel Sport und guter Ernährung bekommt. Karins Anblick ist wie eine Decke für meine geschundene Seele. „Du bist nicht verwahrlost und leider auch kein Teenager mehr. Ich habe dich vermisst, mein Schatz. Es ist schön, dass du wieder hier bist." Ihr Lächeln versetzt mir einen Stich. Ich bin nur hier, weil ich etwas von ihnen brauche. Ich nutze sie aus, obwohl sie das gar nicht verdient haben.

„Es tut mir leid, dass ich euch hier störe. Müsstet ihr nicht schon in der Arbeit sein? Ich werfe euch den ganzen Tag vollkommen durcheinander...", entschuldige ich mich und nippe an dem heißen Getränk in meiner Hand. „Ben arbeitet heute von Zuhause, ich habe ohnehin Urlaub und Joel und Lita keine wichtigen Termine. Sie haben beide Ferien und brauchen jemanden, der ein Auge auf sie hat." Karin zwinkert mir verschwörerisch zu, als würde ich das Drama um wildgewordene Teenager in den Ferien kennen. Dabei hatte ich mich meistens hier oben in meinem Zimmer verkrochen und den ganzen Tag gesungen und mich allein beschäftigt. Erst als Kayla in mein Leben getreten war, hatte sich das geändert. Und ich weiß nicht, wer darüber glücklicher war: meine Pflegeeltern oder ich.

„Was treibt dich zu uns, Mel? Heimweh oder plagt dich etwas anderes?" Aha, da ist also das berühmte Karin-Verhör. Mit warmem Tee werde ich besänftigt, nur damit sie mir jetzt leichter unter die Haut gehen kann.

„Es ist so einiges passiert...", beginne ich vorsichtig, während ich an dem Überzug meiner Decke spiele. „Wir würden dir gerne helfen, wenn wir können. Das weißt du." Karin sieht mich mit diesem Blick an, der mir sagt dass sie mir gerne das Knie tätscheln würde, es jedoch lässt weil sie weiß, dass ich es nicht mag. Und ich bin froh darum. Würde sie mich jetzt umarmen, würde ich nur wieder anfangen zu weinen. „Ich würde es gerne Ben und dir erzählen, wenn das geht?" Karin schenkt mir ein Lächeln. „Aber sicher mein Schatz. Er frühstückt gerade unten, die anderen Beiden sind schon fertig und in ihren Zimmern. Sie sind notorische Frühaufsteher, so wie ich." Wir gehen beide nach unten, wobei ich an den Bildern der Familiengalerie vorbeilaufe. Es sind schwarz-weiß Fotos in schlichten schwarzen Rahmen. Manche sind nur von Karin und Ben, an ihrem Hochzeitstag und in den Flitterwochen. Andere sind mit ihren Pflegekindern. Von mir sind einige dabei, wie wir in den Urlaub gefahren sind und von dem Tag als wir mein Zimmer gestrichen haben. Fotos von Einschulungen, Geburtstagen, Weihnachten und Abschlussfeiern. So viele Leben auf so kleinem Raum.

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