Kapitel 1: Die Happy N.E.S. Company

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May

Ich trat durch das riesige Eingangstor und blieb zunächst mit offenem Mund stehen. Der Anblick, der sich mir bot, war unglaublich. Auf dem ganzen Gelände liefen Menschen umher. Einige hasteten von einem zum nächsten Gebäude, andere trugen Unmengen an Büchern, die sich auf ihren Armen stapelten und so viele waren, dass sie kaum getragen werden konnten. Dann gab es noch diejenigen, die weiße Laborkittel trugen und sich in kleinen Gruppen unterhielten. Es war unglaublich. Bald würde ich von diesem Ganzen ein Teil sein. Dieser Gedanke erschien mir noch immer nicht ganz real, aber ich hatte es geschafft. Die größte Firma des Landes hatte mich tatsächlich als Lifecreatorin eingestellt. Nicht mehr lange und ich würde tausenden von Menschen ein besseres Leben ermöglichen und konnte gleichzeitig meinen Traum, Geschichten zu kreieren und zu schreiben, leben. Schon als kleines Kind liebte ich jegliche Art von Erzählungen und fing nach einiger Zeit selbst an Geschichten zu verfassen. Mittlerweile war es eine Leidenschaft von mir geworden, die ich seitdem zu meinem Beruf machen wollte.

Langsam ging ich den gepflasterten Weg entlang, der direkt zum Hauptgebäude führte. Bei meinem Vorstellungsgespräch war ich zwar schon mal da gewesen, nur leider war mein Orientierungssinn so gut wie nicht vorhanden. Heute würde ich von vorne beginnen und vergessen, was geschehen war. Ein Neustart bei der „Happy N.E.S. Company", der größten und erfolgreichsten Firma des Landes. Es würde aber nicht mehr lange dauern bis dies auch international der Fall war.

Die drei Gründer Nicolas Johnson, Evelyn Brown und Simon Moore hatten damals in einer Garage angefangen. Es war eine der typische Erfolgsstorys eines Unternehmens. In nur 4 Jahren waren sie so erfolgreich geworden, wie andere Firmen es niemals sein würden. Ihre Geschäftsidee war ein Problemlöser für so viele Menschen gewesen, dass bald jeder die „Happy N.E.S. Company" kannte. Der Name ist Programm: Die Firma verkauft Glücklichsein.

Depressionen und Trauer waren in unserer Gesellschaft vorherrschend gewesen. Diese Zeit wurde „Die große Depression" genannt und war auch noch immer nicht ganz überstanden, wobei es deutlich besser wurde. Die drei hatten einen Chip entwickelt, der ins Gehirn implantiert wird und dem Träger zu einem glücklicheren Leben verhilft. Ich weiß nicht, wie genau das funktioniert, aber der Chip verbindet sich wohl mit bestimmten Regionen des Gehirns und sorgt für die Freisetzung bestimmter Botenstoffe oder verhindert eben genau diese. Dadurch reagiert der Mensch in gewissen Situationen auf eine bestimmte Art und Weise, wodurch eine Entscheidung manchmal anders als vorher ausfällt und dadurch positivere Auswirkungen hat.

Außerdem werden gewisse Daten eine Geschichte auf den Chip geladen, wodurch der Träger einige Dinge erleben kann, die er schon immer mal machen wollte oder er hat zumindest eine Erinnerung daran, die ihn jedes Mal aufs Neue glücklich macht. Die Geschichten werden von den Lifecreatoren geschrieben, die der Kunde dann zusammen mit einem Chip kauft. Der wird dann implantiert, wobei die Kenntnis an die gekaufte Story gelöscht wird, damit der in den vollen Genuss des Produktes kommt. An den Chip und die Firma kann er sich jedoch noch erinnern. Sonst würde die Happy N.E.S. Company wohl auch nicht so erfolgreich sein.

Als ich am Hauptgebäude ankam, fing mein Bauch vor Freude an zu kribbeln. Noch immer konnte ich es nicht fassen, dass ich tatsächlich von nun an jeden Tag schreiben und ein Teil dieser Gemeinschaft sein würde. Nur noch ein Schritt, dann war ich auch schon im Gebäude und staunte erneut. Es war riesig und erinnerte mich mehr an ein Shoppingcenter als an ein Bürogebäude. Von unten konnte man die einzelnen Etagen erkennen, da in der Mitte das Gebäude nach oben hin offen war. Ich konnte von hier unten durch das gläserne Dach den blauen Himmel sehen. Links und rechts befanden sich mehrere Aufzüge. Außerdem waren im Erdgeschoss gemütliche Sitzbereiche sowie viele Blumen und kleine Springbrunnen. Das alles war mir zwar schon bei meinem ersten Besuch aufgefallen, als ich mein Vorstellungsgespräch gehabt hatte, aber es überwältigte mich trotzdem aufs Neue.

Direkt gegenüber dem Eingang stand ein großer Empfangstresen, auf den ich geradewegs zu ging.

„Guten Morgen. Ich bin May Clark und habe einen Termin mit Mr. Johnson", begrüßte ich die Dame, die mir ein freundliches Lächeln schenkte.

„Guten Morgen, May. Natürlich, ich sage Mr. Johnson sofort Bescheid", erwiderte sie und griff zum Telefon. Als die Dame mich mit meinem Vornamen ansprach, fiel mir wieder ein, dass hier alle bis auf die drei Gründer mit dem Vornamen angesprochen wurden. Trotzdem wurden alle gesiezt, aber ich fand diese Art sehr viel angenehmer.

„Nehmen Sie doch gerne dort noch kurz Platz. Sie werden gleich abgeholt", sagte sie, nachdem sie kurz telefoniert hatte.

„Dankeschön", meinte ich und setzte mich in einen der Sessel des nahgelegenen Sitzbereiches.

Ich war noch immer von allem fasziniert, als ich von zwei lauten Stimmen aus meinen Gedanken gerissen wurde. Mein Kopf drehte sich automatisch Richtung der rechten Fahrstühle.

„Das können Sie nicht machen. Wirklich, ich brauche diesen Chip!" Mr. Johnson stieg gerade zusammen mit einem Mann mittleren Alters aus dem Fahrstuhl.

„Es tut mir leid, Mr. Carter. Aber da kann ich wirklich nichts tun", entgegnete er und wollte gerade weiter gehen, als der Mann sich ihm in den Weg stellte.

„Sie können nicht oder wollen nicht? Ohne den Happiness-Chip verliere ich alles! Meine Existenz steht auf dem Spiel." Mittlerweile schrie Mr. Carter fast und jeder im Umkreis von einigen Metern bekam die lautstarke und heftige Diskussion mit. Langsam wurde es mir unangenehm, dass ich die ganze Szene mitbekam. Aber ich konnte leider schlecht aus dem Gebäude verschwinden. Das würde sich an meinem ersten Arbeitstag sicherlich nicht gut machen.

„Glauben Sie mir, ich würde Ihnen wirklich gerne helfen. Doch ich kann nicht. Holen Sie sich am Empfang einen Termin für unsere Happy-Care-Abteilung. Da können Sie mit einem Mitarbeiter alle Details sowie das Vorgehen und die Kosten besprechen", meinte er ruhig und professionell.

„Das hilft mir nicht. Ich brauche den Chip jetzt! Jetzt und nicht wann anders! Wenn ich diese negativen Gedanken nicht endlich in den Griff bekomme, werde ich gefeuert und kann meine Familie nicht mehr versorgen. Geht das in ihren Kopf rein?", schrie Mr. Carter und fuchtelte wild mit den Händen vor Mr. Johnsons Gesicht herum, der einen mitleidigen Ausdruck bekam. Ich hatte wirklich das Gefühl, dass er ihm helfen wollte. Eine kurze Pause entstand, in der der Mann den Geschäftsführer hoffnungsvoll anschaute.

„Mr. Carter. Ich sage es Ihnen noch einmal. Leider kann ich nichts für Sie tun. Holen Sie sich einen Termin oder verlassen Sie bitte das Gelände", erwiderte er schließlich. Man konnte die zerstörerische Kraft dieser Worte auf Mr. Carters Gesicht nur allzu deutlich erkennen. Dann wandelte sich die Enttäuschung in Wut und er sah Mr. Johnson bedrohlich an.

„Sie... Das können Sie mir nicht antun!", rief er und packte ihn an der Schulter. Doch Mr. Johnson ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.

„Beruhigen Sie sich bitte. Oder ich muss den Sicherheitsdienst rufen", sagte er.

„Na gut. Aber dafür werden Sie büßen!" Mr. Carter drehte sich um und verschwand schnellen Schrittes aus dem Gebäude.

„May schön, dass Sie da sind. Entschuldigen Sie bitte, dass Sie diesen kleinen Zwischenfall gerade mitbekommen mussten", begrüßte mich Mr. Johnson wenig später mit einem Lächeln.

„Guten Morgen, Mr. Johnson. Das macht doch nichts. Sie können ja schließlich nichts dafür", lächelte ich ein wenig nervös.

„Solche Kunden gehören eben auch zum Geschäft dazu. Aber ich bin froh, dass Sie das so entspannt sehen", antwortete er und zeigte erneut sein charmantes Lächeln. Schon beim ersten Mal war mir aufgefallen, wie gut er aussah. Er war erst Ende zwanzig, hatte braune Haare, die er zurückgegelt hatte und trug einen dunkelblauen Anzug, der gut zu seinen blauen Augen passte.

„Natürlich. Ich bin auch schon gespannt auf meine neuen Aufgaben." Etwas verlegen und schüchtern schaute ich ihn an. Irgendwie schaffte er es mich mit einem einzigen Lächeln ein wenig aus der Fassung zu bringen. Warum musste er auch so verdammt gut aussehen?

„Dann möchte ich Ihnen Ihr Team und Ihren neuen Arbeitsplatz zeigen. Wenn Sie mir bitte folgen würden", holte seine Stimme mich zurück in die Realität. Er ging zu den linken Fahrstühlen.

Aufgeregt folgte ich ihm. Was würde mich oben wohl erwarten? 

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