Kapitel 9: Der Brief

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May

Noch immer mit offenem Mund starrte ich auf das Papier in meiner Hand. Ich hätte meine Augen davon losreißen sollen, aber ich schaffte es einfach nicht. Zeile für Zeile überflog ich das Schreiben und als ich am Ende angekommen war, ließ ich meine Hände mit dem Dokument kurz sinken und schaute ins Leere. Nach einigen Sekunden schüttelte ich leicht den Kopf und las es nochmal Wort für Wort:

Mr. Johnson,

ich weiß, was bei der Happy N.E.S. Company vor sich geht. Sie können die Öffentlichkeit und mich nicht für dumm verkaufen. Der Chip hat nicht nur positive Effekte auf seine Träger. Meine Nachforschungen haben einige erstaunliche und zugleich schockierende Ergebnisse zu Tage befördert.

In der Öffentlichkeit und Presse wird immer nur berichtet, wie toll sich unsere Gesellschaft verändert hat. Wie sie sich zum besseren gewandelt hätte. Es ist nicht zu bestreiten, dass es weniger Depressionen und Arbeitsausfall sowie Kriminalität und Selbstmorde gibt. Aber was ist mit den Nebenwirkungen, die durch das Implantat hervorgerufen werden können? Davon wurde bisher nichts gesagt. Kopfschmerzen, Erbrechen, Stimmungsschwankungen, Black Outs und Entzündungen in einigen Organen, um mal ein paar an dieser Stelle aufzuzählen.

Aber anstatt davor zu warnen, wird es totgeschwiegen – teils im wahrsten Sinne des Wortes. Jeder Mensch hat ein Recht darauf davon zu erfahren, bevor er sich diesen Chip implantieren lässt, damit er sich dem vollen Risiko darüber bewusst ist.

Außerdem weiß ich ebenfalls von den Vorkommnissen und nicht erlaubten Test in Ihrem Forschungslabor.

Es ist mir ein Rätsel, wie Sie noch guten Gewissens dieses Unternehmen führen und weitere von Ihren Chips implantieren können.

Bedenken Sie, dass es immer zwei Seiten einer Geschichte gibt. Etwas Positives geht immer mit etwas Negativem einher. Über die eine Seite wurde nun mehr als genug berichtet. Ich bin dafür da, die komplette Wahrheit herauszufinden, sie zu belegen und den Menschen zu ihrem Recht auf dieses Wissen zu verhelfen.

Ich werde in den nächsten Tagen zu Ihnen kommen, um Ihnen die Möglichkeit zu geben alles aufzuklären und zu gestehen.

Gezeichnet Mr. Andrew Parker

Beim zweiten Mal lesen wurde es keineswegs besser. Ich verstand jedes einzelne Wort, doch die Bedeutung des gesamten Briefes wollte mir nicht in den Kopf gehen. Das konnte alles nicht wahr sein. Der Reporter musste lügen.

Aber was wäre, wenn das alles der Wahrheit entspräche? Wenn die Chips tatsächlich Nebenwirkungen hervorriefen, die zum Teil sogar scheinbar tödlich endeten?

In diesem Moment hörte ich Schritte und Mr. Johnson Stimme direkt hinter der Tür. Schnell legte ich das Papier samt dem Stapel mit anderen Akten und Dokumenten zurück auf die Kommode neben die Getränke. Dann huschte ich zurück auf meinen Stuhl – gerade noch rechtzeitig. Denn genau dann kam Nicolas Johnson, noch immer mit Handy am Ohr, in sein Büro. Als er auf seinem Bürosessel Platz nahm, senkte er kurz das Telefon und sah mich an.

„Es tut mir wirklich leid, May, aber das hier wird leider noch länger dauern. Bestehen von Ihrer Seite noch Themen, die wir besprechen müssen? Wenn ja, dann melde ich mich bei Ihnen, um einen neuen Termin auszumachen", entschuldigte er sich lächelnd.

Zunächst wusste ich nicht, was ich darauf antworten sollte. Mein Körper schien in dem Augenblick seines Betretens vom Raum in eine kurzzeitige Schockstarre verfallen zu sein. Meine Arme und Beine wollten mir nicht mehr gehorchen und mein Kopf arbeitete an Hochtouren an einer Erklärung für diesen Brief, die besser war, als die, dass der Journalist einfach nur lügte.

„May? Ist bei Ihnen alles in Ordnung? Geht es Ihnen gut?", hakte Mr. Johnson da auch schon nach.

Da schien auch mein Körper zu merken, dass es besser wäre, diese Situation so schnell wie möglich zu verlassen und überließ meinem Kopf wieder die Kontrolle über ihn.

„Ja, alles okay. Ich war gerade nur in Gedanken. Entschuldigen Sie bitte", antwortete ich.

„Da bin ich froh. Gibt es von Ihrer Seite denn noch Themen, die wir in näherer Zeit noch besprechen müssten?", wiederholte er seine Frage.

„Nein. Von meiner Seite aus haben wir alles geklärt", erwiderte ich und stand von meinem Platz auf.

„Alles klar. Dann wünsche ich Ihnen noch einen schönen Tag und viel Erfolg bei dem Schreiben Ihrer aktuellen Geschichte", verabschiedete er sich und wandte sich dann auch schon wieder seinem Handy zu.

Ich versuchte mich zu beherrschen, um nicht fluchtartig sein Büro zu verlassen, was mir glücklicherweise gut gelang.

Als ich aus dem Hauptgebäude ins Freie trat, atmete ich tief ein und aus. Bevor ich hoch in die Lifecreator-Abteilung ging, musst ich erstmal hier raus und wieder einen klaren Kopf bekommen. Vorher könnte ich mich sowieso auf nichts anderes konzentrieren. Daher beschloss ich eine kurze Runde über das Gelände zu drehen.

Der Spaziergang tat mir wirklich gut. Zumindest bis zu dem Zeitpunkt, wo ich an meine Eltern denken musste. Mein Puls schnellte wieder in die Höhe und ich zog panisch mein Handy hervor. Mein Vater hatte ein Chipimplantat und auch, wenn ich den Anschuldigungen keinen Glauben schenken wollte, musste ich mich vergewissern, dass es ihm gut ging.

„Clark", meldete meine Mutter sich am anderen Ende.

„Mum, ich bin es", sagte ich und war froh ihre Stimme zu hören, die mir das Gefühl von Geborgenheit vermittelte und meinen Herzschlag wieder ein bisschen beruhigen ließ.

„Schatz, wie schön, dass du anrufst", freute sie sich.

„Ist bei Dad und dir alles in Ordnung?", fragte ich sofort ohne lange um den heißen Brei zu reden.

„Natürlich. Dad ist gerade auf der Arbeit und ich habe heute meinen freien Tag. Ich bin so glücklich, dass es ihm jetzt wieder so gut geht. Er blüht wieder richtig auf, genauso wie früher", erzählte sie und ich konnte das Lächeln in ihrer Stimme hören.

„Bist du dir ganz sicher, dass es Dad auch wirklich gut geht", hakte ich nach, um ganz sicher sein zu können.

„Ja, Schatz. Ich bin mir sicher. Aber warum fragst du so genau nach?" Das Lächeln war erloschen und sie wirkte verwundert.

„Ach, alles gut. Ich wollte einfach nur sicher sein, dass es Dad auch noch immer gut geht und er keinen Rückfall hatte", antwortete ich, da ich sie nicht beunruhigen wollte. Ich war mir selbst ja noch nicht sicher, ob das, was ich gelesen hatte, der Wahrheit entsprach. Doch das würde ich herausfinden. Meine Eltern waren jetzt glücklich und ich wollte nicht, dass das wieder zerstört wurde.

„Okay, Schatz. Aber falls irgendetwas sein sollte, weißt du, dass du immer zu uns kommen kannst", sagte sie.

„Danke, Mum. Das weiß ich. Ich muss hier jetzt auch weiter machen. Ich habe dich lieb und sag das bitte auch Dad", verabschiedete ich mich.

„Wir dich auch."

Das Gespräch mit meiner Mum hatte mir gut getan, aber auch klar gemacht, dass ich die Wahrheit herausfinden musste. Doch ich müsste schlau vorgehen. Denn, wenn an diesen Vorwürfen nichts dran war, wollte ich nicht, dass jemand etwas von meinen Nachforschungen wusste.

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