Kapitel 31: Die Flucht

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May

Ich fühlte mich hilflos. Anna lag neben mir auf dem Boden und krümmte sich vor Schmerzen. Was war bloß los mit ihr? Wie konnte ich ihr helfen?

Dann lag sie plötzlich ganz ruhig nur da.

„Anna?" Behutsam berührte ich sie an der Schulter.

„Ich erinnere mich wieder." Langsam setzte sie sich auf. Sie sah nicht gut aus. Ihre Augen waren rot und Tränen liefen ihr übers Gesicht. Was um alles in der Welt war hier nur passiert?

„Du erinnerst dich wieder? An mich?", hakte ich vorsichtig nach.

„Ja. An einfach alles. An die Freundschaft zu dir, an meine Familie, das Segelunglück mit meinem Bruder und an das Chipimplantat bei mir", erwiderte sie.

Mir stockte der Atem. Hatte sie gerade tatsächlich Chipimplantat gesagt? Ich musste mich verhört haben und schüttelte den Kopf, um diese Gedanken zu vertreiben.

„Deswegen hatte ich auch diese Kopfschmerzen. Du musst mit deinen Erzählungen über unsere gemeinsame Vergangenheit die Erinnerungen irgendwie wieder hervorgerufen haben, die durch den Chip eigentlich gelöscht werden sollten." Anna senkte den Blick. Ich hatte mich also nicht verhört. Sie hatte mich tatsächlich vergessen wollen. Übel nehmen konnte ich ihr das nicht. Durch mich hatte sie schließlich ihren Bruder verloren. Einer der wichtigsten Menschen in ihrem Leben.

„Ich verstehe. Du wolltest mich aus deinem Kopf löschen", flüsterte ich und fixierte einen Punkt auf dem Boden. Obwohl ich diese Entscheidung nachvollziehen konnte, war ich den Tränen nahe.

Annas Schweigen sagte mehr als tausend Worte.

„May, ich...", fing sie schließlich an und brach dann doch wieder ab.

„Du hast keinen anderen Ausweg gesehen", meinte ich und sah sie kurz an.

Sie nickte.

„Ja, leider. Ich wollte nicht ein Teil der großen Depression werden und dachte, dass ein Implantat das Beste für mich wäre", erklärte Anna.

„Für mich war das auch nicht leicht. Du bist nicht die einzige, die einen wichtigen Menschen verloren hat. Alex hat mir auch viel bedeutet", sagte ich.

„Ich weiß. Es war dumm zu glauben, ich könnte meine Vergangenheit einfach so vergessen und dir auch noch die Schuld an Alex' Tod zu geben. Das hätte ich nicht tun dürfen. Wir hätten füreinander da sein müssen", erwiderte meine beste Freundin und schluchzte.

Wie von selbst rutschte ich näher an sie heran und nahm sie in den Arm. Diese Umarmung brauchten wir jetzt beide.

Das Klingeln des Telefons riss uns beide aus den Gedanken. Schnell wischte Anna sich die Tränen weg und versuchte ihre Atmung unter Kontrolle zu bekommen. Dann ging sie zu Hörer und nahm ab.

„Anna hier", meldete sie sich.

Ich konnte nicht hören, wer dran war oder was die Person sagte, aber Anna wurde hektisch.

„Nein. Also... der Grund dafür... Die Tests sind noch nicht ganz abgeschlossen. Sobald ich alle Ergebnisse vorliegen habe, führe ich den Eingriff sofort durch", stammelte sie und hörte dann wieder anderen Person zu.

„Natürlich." Damit legte sie auf und sah mich leicht panisch an.

„Wir müssen sofort weg von hier. Wenn ich den Eingriff nicht bei dir durchführe, wird Dr. Brown misstrauisch werden und hierher kommen. Bis dahin müssen wir verschwunden sein", erklärte sie mir die Situation.

„Aber wie sollen wir hier raus kommen?", fragte ich.

„Überlass das mir. Ich kenne mich hier aus", antwortete sie und sah mir direkt in die Augen.

Dann nickten wir beide und standen auf.

„Okay. Ich vertraue dir", sagte ich.

„Und ich dir."

Ich war beeindruckt, wie Anna mit der ganzen Situation umging. Sie hatte gerade erfahren, dass sie nicht alles so war, wie sie geglaubt hatte. Die ganzen Erinnerungen, die jetzt plötzlich in ihrem Kopf herumschwirren mussten. Das musste heftig sein. Trotzdem behielt sie einen kühlen Kopf.

Wenn ich an ihrer Stelle gewesen wäre, wäre ich durchgedreht. Aber so war Anna schon immer gewesen. Wir waren in Gefahr. Das war wie ein Problem, das gelöst werden musste. Auf diese Lösung konzentrierte sie sich. Alles andere war erstmal zweitrangig.

Anna öffnete die Tür und schaute auf den Gang.

„Niemand da. Los!", sagte sie und bedeutete mir ihr zu folgen.

Wir huschten lautlos über den Gang und hofften, dass uns niemand sehen würde. Doch als wir gerade an Raum 4 vorbei kamen, öffnete sich die Tür und einer der Wissenschaftler trat heraus.

Anna reagierte blitzschnell und packte mich am Arm.

„Glaub mir, es wird dir danach viel besser gehen", sagte sie zu mir gewandt und führte mich behutsam weiter. Der Wissenschaftler beachtete uns nicht und verschwand einen Raum weiter hinter der Tür. Anna drehte sich kurz noch einmal um und ließ mich dann wieder los.

Schließlich passierten wir die schwere Stahltür, die uns in den Rest des Laborgebäudekomplexes führte. Ich sah mich kurz um und erkannte, dass ich hier an dem Abend des Maskenballs gewesen war. Ohne Zeit zu verlieren, hielt Anna sich links und ging weiter. Dann kam uns ein junger Mann entgegen. Irgendwie kam er mir bekannt vor. Ich musste ihn schon einmal gesehen haben.

„Anna. Schön dich zu sehen, Schatz", sagte er und kam direkt auf uns zu. Leichte Panik stieg in mir auf.

„Riley", erwiderte meine beste Freundin. Jetzt wusste ich wieder, woher ich den jungen Mann kannte. Er hatte mich zu meiner Wohnung geführt.

„May, folg einfach diesem Gang. Dann kommst du direkt zum Ausgang des Gebäudes. Weißt du, wo die Bänke in der Nähe des Ausgangs des Firmengeländes sind?" Sie sah mich eindringlich an. Ich nickte.

„Gut. Da treffen wir uns in zehn Minuten. Ich komme gleich nach", meinte sie und wandte sich dann Riley zu. Ich sah aus dem Augenwinkel noch, wie die beiden sich kurz küssten. Waren die beiden ein Paar? Ein kleines Lächeln schlich sich auf meine Lippen.

Als ich gerade durch den Ausgang nach draußen treten wollte, stieß ich mit jemandem zusammen.

„Entschuldigung", sagte ich und bemerkte erst in dem Moment, mit wem ich da zusammengestoßen war.

„May. Schön Sie zu sehen." Nicolas Johnson schenkte mir sein charmantes Lächeln. Unsicher sah ich ihn an. Schön mich zu sehen? Wusste er nicht, dass Simon mich gefangen genommen hatte? Dann erinnerte ich mich an das, was Andrew Parker mir gesagt hatte: Ja, mir war auch nicht bewusst, dass Simon Moore derjenige ist, der die Fäden zieht. Mein Verdacht lag auch vor allem auf Nicolas Johnson.

Wusste er vielleicht gar nichts von all dem? Andrew Parker gegenüber hatte er alles abgestritten. Andererseits hatte er auf der Pressekonferenz von Testergebnissen gesprochen. Allerdings schien er gerade ehrlich froh darüber zu sein mich zu sehen. Wenn er doch der nette Typ war, für den ich ihn anfangs gehalten hatte, könnte er uns vielleicht helfen. Er war das offizielle Gesicht der Firma. Wenn wir an die Öffentlichkeit gehen würden, wäre es hilfreich ihn auf unserer Seite zu wissen.

Entgegen Simons Ratschlag entschied ich mich für das Vertrauen.

„Mr. Johnson, ich muss dringend mit Ihnen reden", erwiderte ich und zog ihn ohne auf eine Antwort zu warten mit mir nach draußen.

„Okay. Aber May, könnten wir das auf später verschieben? Ich habe eigentlich einen gleich einen wichtigen Termin", sagte er.

„Vertrauen Sie mir. Das kann nicht warten. Bitte." Ich blieb kurz stehen und sah ihn flehend an. Hoffentlich hatte ich mich wirklich richtig entschieden und lag nicht schon wieder daneben. Aber wenn er mit Simon zusammenarbeiten würde, dann hätte er mich doch schon längst wieder in Gewahrsam genommen, oder?

„Na gut", gab er schließlich nach. Zusammen machten wir uns auf den Weg zum vereinbarten Treffpunkt.

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