May
Ich trat hinaus in das helle Sonnenlicht. Der Vormittag war zwar gerade erst angebrochen, aber trotzdem schien die Sonne schon stark und erbarmungslos. Es würde heute bestimmt wieder ziemlich warm werden.
Doch bevor der Nachmittag anbrach, wollte ich unbedingt noch Laufen gehen. Gestern hatte ich schon mit meiner ersten Geschichte angefangen, aber nach einiger Zeit war ich ins Stocken gekommen und hing seitdem an ein und derselben Stelle. Schließlich hatte ich es erstmal sein lassen und war schlafen gegangen, um ein bisschen Abstand zu bekommen. Oftmals reichte das schon und ich kam weiter. Diesmal hatte das jedoch leider nicht funktioniert. Daher hatte ich beschlossen Laufen zu gehen. Das war eine meiner Waffen, um den Kopf frei zu bekommen.
Gerade als ich starten wollte, hörte ich eine mir bekannte Stimme.
„May", rief Nicolas Johnson meinen Namen.
Ich drehte mich in die Richtung seiner Stimme und sah, wie er auf mich zukam.
„Mr. Johnson", begrüßte ich ihn.
„Sie sind aber schon früh auf den Beinen", sagte er und schenkte mir sein charmantes Lächeln, das mir schon bei unserem ersten Treffen aufgefallen war. Jedoch verwirrte mich seine Aussage. Es war schon halb zehn, was für einen Arbeitstag nicht gerade früh ist. Das war zumindest meine Meinung. Nicolas Johnson musste meinen verwirrten Blick bemerkt haben, denn er fing an zu erklären.
„Die meisten schlafen lieber aus, wenn sie die Möglichkeit haben und sehr viele unserer Mitarbeiter nutzen das auch. Wir schreiben ja keine Arbeitszeiten vor, sondern vertrauen allen, dass die vereinbarten Ziele rechtzeitig erreicht werden."
Bei seiner Aussage wurde mir mal wieder ins Gedächtnis gerufen, dass ich jetzt bei der Happy N.E.S. Company arbeitete und hier einiges anders lief. Das mit den flexiblen Arbeitszeiten wusste ich eigentlich auch, aber ich hätte nicht gedacht, dass so viele der Mitarbeiter tatsächlich ausschliefen.
„Das System scheint sich ja auch bewährt zu haben. Aber für mich ist das nichts. Außerdem komme ich bei meiner Story gerade nicht weiter und wollte Laufen gehen, um einen freien Kopf zu bekommen", erwiderte ich schließlich.
„Dann scheinen Sie ja schon sehr fleißig gewesen zu sein. Ich möchte Sie auch gar nicht vom Laufen abhalten. Aber Sie wissen, dass wir hier auch ein eigenes Fitnessstudio speziell für unsere Mitarbeiter haben?", fragte er.
Das hatte ich komplett vergessen. Als ich gestern mit Riley zu meiner kleinen Wohnung gegangen war, hatte er mir davon erzählt, aber gestern hatte ich einfach so viel Input bekommen, dass ich für diese Information keine freien Speicherkapazitäten mehr frei gehabt hatte. Aber ich mochte es sowieso lieber draußen in der Natur laufen zu gehen.
„Danke, ja, das weiß ich, aber ich mag es lieber draußen an der frischen Luft zu laufen. Das hilft mir mehr den Kopf frei zu bekommen", antwortete ich daher.
„Das verstehe ich. Würden Sie danach noch kurz zu mir ins Büro kommen? Ich würde Sie gerne fragen, wie ihr erster Tag für Sie war. Das machen wir mit allen neuen Mitarbeitern", meinte er und sah mich mit seinen tiefblauen Augen an, die mir in diesem Moment zum ersten Mal richtig auffielen. Plötzlich meinte ich ein leichtes Kribbeln in meinem Bauch zu spüren und erschrak darüber. Ich würde mich doch nicht in ihn verlieben. Es war schon etwas her, dass ich solche Gefühle gehabt hatte und es tat noch immer weh. Ich fragte mich, ob ich jemals wieder bereit sein würde, mich auf jemanden einzulassen. Außerdem ist Nicolas Johnson noch immer mein Chef! Also selbst wenn, würde es sicherlich nicht sein, auch, wenn ich mich auf eine gewisse Art zu ihm hingezogen fühlte.
„Natürlich, Mr. Johnson. Dann bis später", stimmte ich schnell zu und machte mich dann auf den Weg, um dieser Situation zu entkommen.
Als ich vom Joggen zurück war, ging es mir sehr viel besser. Die Musik in Kombination mit der Bewegung hatte echt gut getan. Irgendwann hatte ich mich nur noch auf das Laufen konzentriert und von der einen auf die andere Sekunde hatte ich die Idee für den weiteren Verlauf meiner Geschichte bekommen. Immer, wenn man nicht damit rechnet oder an etwas ganz anderes denkt, kommen die besten Ideen. Das hatte ich schon vor längerer Zeit festgestellt.
Schnell schlüpfte ich aus meinen Sportsachen raus und machte mich für das Gespräch mit Mr. Johnson fertig. Dieses Kribbeln vorhin hatte mich wirklich leicht aus der Bahn geworfen. Aber ich war sicher, dass das nur eine einmalige Sache gewesen war.
Gut gelaunt schrieb ich noch schnell meine Gedanken für die Story auf, um auch nichts davon zu vergessen, bevor ich mich auf den Weg zum Hauptgebäude, wo das Büro von Nicolas Johnson lag, machte.
In dem Moment, wo ich das Gebäude betrat, sah ich Mr. Johnson schon. Er stand zusammen mit einem Mann, der ein Diktiergerät in der Hand hielt bei den Aufzügen. Die beiden diskutierten heftig und lautstark, sodass alle im Umkreis von einigen Metern das Gespräch mitbekamen.
„Mr. Parker, ich sage es Ihnen noch einmal. Verlassen Sie bitte das Gebäude!" Dabei deutete Mr. Johnson auf die große Drehtür.
„Sie können mich nicht einfach so wegschicken. Die Menschen haben ein Recht darauf zu erfahren, was Sie hier wirklich machen!", erwiderte der Mann, der Journalist zu sein schien, und bewegte sich keinen einzigen Schritt weg.
„Was denken Sie denn, was wir hier machen?", fragte Mr. Johnson, verschränkte seine Arme und sah den Reporter herausfordernd an.
„Sie wissen genau, was ich meine. Wie können Sie nur damit leben? Den Menschen wird mit den Chips ihr freier Wille genommen", antwortete er.
„Mr. Parker. Die Happy N.E.S. Company nimmt den Menschen nichts. Im Gegenteil, wir verhelfen ihnen zu einem besseren Leben. Einem glücklicheren Leben. Alle unsere Kunden haben sich selbst dazu entschieden sich den Chip implantieren zu lassen und ein besseres Leben zu führen. Also hören Sie mit Ihren unverschämten und falschen Anschuldigungen auf!"
„Glauben Sie das wirklich oder wollen Sie es einfach nicht sehen? Ich weiß genau, was in Ihrer Forschungsabteilung vor sich geht." Mr. Parker sah Mr. Johnson prüfend an.
„Wollen Sie damit etwa andeuten, dass es in dieser Abteilung nicht mit rechten Dingen zugeht? Haben Sie Beweise für diese Anschuldigungen?"
Es entstand eine kurze Pause.
„Dann verbitte ich mir solche Aussagen über etwaige Abteilungen oder Mitarbeiter. Verlassen Sie sofort das Gelände oder ich rufe den Sicherheitsdienst!" Nicolas Johnsons Geduld schien am Ende zu sein.
„Schon gut, das ist nicht notwendig." Ohne ein weiteres Wort drehte sich der Journalist um. Auf dem Weg zum Ausgang trat er heftig gegen eine der Pflanzen, die daraufhin geräuschvoll umkippte.
Als er an mir vorbei kam, hörte ich ihn „Alles Lügner" murmeln und sah ihm perplex nach. Dann verschwand er nach draußen.
War das gerade wirklich passiert? Klar, es gab Kritiker, die die Chips alles andere als moralisch unbedenklich ansahen. Aber wie Mr. Johnson schon gesagt hatte, alle Menschen mit implantierten Chips hatten sich freiwillig dazu entschieden. Außerdem hatte es unserer Gesellschaft Glück und Zufriedenheit zurückgegeben. Auch für die Wirtschaft hatte das viele Vorteile: Durch das glücklichere Leben wurden die Mitarbeiter vieler Firmen weniger krank, dadurch gab es erheblich geringeren Ausfall und die Wirtschaft wurde wieder angekurbelt.
Anfangs hatte ich auch meine Zweifel gehabt. Doch warum sollte es falsch sein, wenn sich der Mensch dazu selbst entschieden hat und es ihm damit sogar besser geht? Ihm wurde keine Entscheidungsfreiheit geraubt. Jeder Kunde wusste genau, worauf er sich mit dem Kauf des Chips einlässt.
„May, schön, dass Sie da sind. Lassen Sie uns in mein Büro gehen", begrüßte mich Nicolas Johnson und ging auf die Szene mit dem Journalisten Mr. Parker nicht näher ein. Das nenne ich mal Professionalität.
„Gerne", erwiderte ich lächelnd und zusammen gingen wir zu einem der Aufzüge, um hoch in sein Büro zu fahren.
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Happiness Plus
Science Fiction"Happiness-Plus-Chip, der": Die Weiterentwicklung des Happiness-Chips, der in das menschliche Gehirn implantiert wird und dem Träger zu einem glücklicheren Leben verhilft. Durch ihn werden Depressionen bekämpft. Die Happy N.E.S. Company ist die erfo...