Kapitel 18: Die Geiselnahme

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May

„Jetzt hören Sie mir zu! Ich will diesen neuen Chip. Sofort! Oder sie stirbt!", schrie Mr. Carter wutentbrannt und drückte mir das Messer noch ein wenig mehr an den Hals. Das tat er also, wenn er komplett austickte.

Panik stieg in mir auf. Ich bemerkte, wie es plötzlich still wurde und alle Anwesenden mindestens einen Schritt zurückwichen. Doch es dauerte nicht lange, bis die Fernsehreporter auch schon ihre Kameras auf die Szene gerichtet hatten. Ich konnte die Schlagzeilen schon vor mir sehen: Geiselnahme auf der Pressekonferenz der Happy N.E.S. Company; Schrecklicher Zwischenfall auf der Pressekonferenz; Alles andere als Happy: Geiselnahme bei der Happy N.E.S. Company. Oder was auch immer sich wieder ausgedacht werden würde. Aber ich konnte nicht tun. Hilflos musste ich hier in der Gewalt von Mr. Carter mit dem Messer am Hals stehen bleiben und konnte nur beobachten, was passierte.

„Beruhigen Sie sich bitte. Ich bin mir sicher, dass wir eine Lösung finden werden", versuchte Nicolas die Situation zu entschärfen.

„Ach, plötzlich sind Sie bereit eine Lösung zu finden?! Jetzt, wo ich jemanden in meiner Gewalt habe. Wie berechenbar Sie doch sind. Jetzt bereuen Sie Ihre Entscheidung. Ich habe es Ihnen gesagt!", sagte er und schien das Gefühl Macht zu haben zu genießen.

In diesem Moment trat ein Mann hinter Nicolas Johnson hervor. Er hatte dunkelblonde, kurze Haare, war groß und trug einen weißen Anzug. Ich hatte ihn bisher noch nie persönlich gesehen, erkannte ihn jedoch sofort: Das war Simon Moore, der Dritte der Firmengründer.

Er legte Nicolas kurz die Hand auf die Schulter. Dann kam er langsamen, aber dennoch sicheren Schrittes direkt auf uns zu.

„Bleiben Sie zurück!", warnte Mr. Carter ihn.

„Ich möchte Ihnen doch nur helfen. Wie soll Ihnen der Chip implantiert werden, wenn Sie niemanden an sich heran lassen?", erwiderte ruhig und bedacht und näherte sich uns vorsichtig weiter.

Das ließ den Geiselnehmer kurz verstummen. Simon nutzte die Pause.

„Hören Sie, niemand möchte Ihnen etwas tun oder dafür sorgen, dass noch etwas Schlimmeres passiert. Wenn Sie sich beruhigen, können wir uns zusammensetzen und finden einen Weg Ihnen diesen Chip zu ermöglichen", fuhr er fort.

„Bleiben Sie sofort stehen! Keinen Schritt weiter!", schrie Mr. Carter panisch. Ich verspürte einen kurzen, schmerzhaften Stich. Dann merkte ich, wie etwas Warmes meinen Hals herab lief. Es war zwar nicht viel Blut, aber es half definitiv nicht dabei mich zu beruhigen. Ich wollte hier weg. Sofort! Meine Atmung beschleunigte sich. Nicht mehr lange und ich würde hyperventilieren. Die Panik musste sich auch in meinem Gesicht widergespiegelt haben.

„Wir möchten, dass niemand verletzt wird. Lassen Sie diese Mitarbeiterin gehen, dann verspreche ich Ihnen, dass wir gemeinsam eine Lösung finden werden", versuchte Simon Moore den Mann zu beruhigen. Meiner Panik half das jedoch nicht, was scheinbar auch Nicolas aufgefallen war.

„May, es wird alles gut", hörte ich da plötzlich seine Stimme. Kurz darauf tauchte er neben Simon auf. Er wirkte sehr besorgt, aber tatsächlich schaffte er es mir ein besseres Gefühl zu geben, obwohl ich noch immer mit dem Messer an meiner Kehle dort stand.

„Sie machen das sehr gut. Wir finden eine Lösung. Ihnen wird nichts passieren", redete er weiter. Ich konzentrierte mich auf seine Stimme und meine Atmung beruhigte sich wieder ein wenig.

„Dafür sollten Sie lieber mit mir reden. Immerhin bin ich derjenige, der hier jetzt das Sagen hat. Versprechen wie Ihre kenne ich. Sie bringen mich jetzt sofort zu jemandem, der mir diesen Chip einsetzt und sie hier kommt mit. Quasi als meine Versicherung, dass Sie auch wirklich halten, was Sie meinen", meldete Mr. Carter sich wieder zu Wort.

Es entstand eine kurze Stille. Man hörte nur in einigen Metern Entfernung die Kommentare der Reporter in die Kameras.

Schließlich nickte Simon kaum merklich, ehe er sich wieder an den Geiselnehmer wandte.

„Gut. Ich führe Sie zu dem Labor, wo wir den Eingriff durchführen können", willigte er ein. Er gab Nicolas ein kurzes Zeichen, dass er hier bleiben sollte und deutete dann in Richtung der Labore.

„Dann kommen Sie."

Mr. Moore ging voran und unfreiwillig musste ich ihm folgen.

„Mr. Carter, ich möchte Ihnen ja nicht zu nahe treten, aber für den Eingriff werden Sie May frei lassen müssen. Ohne eine Narkose können wir die Implantation nicht durchführen", sagte Simon. Ich fand es beeindruckend, wie ruhig und besonnen er während der gesamten Situation reagierte. Bei mir war davon keine Spur zu erkennen. Allerdings wurde ihm auch kein Messer an den Hals gehalten.

„Darüber reden wir dann. Erstmal führen Sie mich zu diesem Labor!", antwortete mein Geiselnehmer, der nur wenige Schritte hinter Mr. Moore, das Messer noch immer an meinen Hals gedrückt, ging.

„Sie sollten sich dennoch schon mal Gedanken darüber machen. Das Labor ist nicht allzu weit entfernt. Es wäre wirklich das Beste, wenn Sie May einfach gehen lassen. Ich verspreche Ihnen, dass...", erwiderte Simon.

„Haben Sie mir vorhin nicht zugehört?! Natürlich haben Sie das nicht. Warum sollte Sie auch interessieren, was ich zu sagen habe oder was in meinem Leben alles schief gegangen ist? Hauptsache Ihnen geht es gut. Daher sage ich es Ihnen noch einmal: Ihre Versprechen sind nichts wert! Da ich hier derjenige mit dem Messer und der Geisel bin, wird gemacht, was und wie ich es will", unterbrach Mr. Carter ihn.

Mit einem Mal tat er mir leid. Klar, es war nicht richtig, was er hier tat, aber er sah keinen anderen Ausweg mehr. Er hatte nichts mehr zu verlieren. Ich fragte mich, ob es ihm anders, besser ergangen wäre, wenn er sich den Happiness-Chip hätte leisten können. Hätte er dann nicht seinen Job verloren? Hätte er eine Chance gehabt seiner Familie das Leben zu bieten, was sie verdient hatten? Hätte ich ihm mit einer meiner Geschichten zu einem schöneren Leben verhelfen können?

„Natürlich. Wir machen alles so, wie sie möchten", stimmte Simon Moore zu und holte mich so auf den Boden der Tatsachen zurück.

Der Zugang zu dem Gebäude, in dem sich die wissenschaftlichen Räume und somit auch die Labore befanden, war schon zu sehen, als Simon einen weiteren Versuch wagte.

„Dort hinten können Sie schon das Gebäude, in dem sich unsere Labore befinden, sehen. Ich würde Ihnen gerne noch einen Vorschlag machen", fing er an und machte dann eine Pause, um Mr. Carters Neugierde zu wecken.

„Ich höre?", fragte er nach und schaute ihn auffordernd an.

„Lassen Sie May frei und nehmen mich stattdessen als Geisel. Ich bin einer der Gründer dieser Firma. Mit mir in Ihrer Gewalt haben Sie viel bessere Chancen genau das zu bekommen, was Sie möchten. Glauben Sie mir. Für Sie hat das nur Vorteile", schlug Simon vor.

Mr. Carter erwiderte zunächst nichts darauf und schien den Rest des Weges ernsthaft darüber nachzudenken. Ich war ziemlich überrascht über Mr. Moores Vorschlag. Wollte er sich tatsächlich einfach so austauschen lassen? Er war einer der Gründer und ich nur eine Lifecreatorin, die auch noch nicht lange hier arbeitete. Dennoch war ich mehr als froh über diese Idee und hoffte, dass der Mann hinter mir sich darauf einlassen würde. War das egoistisch? Schließlich würde dafür Simon in seiner Gewalt sein.

„Ausnahmsweise klingt das logisch und sinnvoll, was sie vorgeschlagen haben. Daher machen wir es so. Sie gehen mit mir als meine Geisel zum Labor", antwortete Mr. Carter, als wir den Eingang des Gebäudes erreichten.

„Sehr gut." Langsam kam Mr. Moore die wenigen Schritte auf uns zu. Ich wurde mit einem Mal weggestoßen und bevor ich richtig realisierte, dass ich wieder frei war, hielt er auch schon Simon Moore das Messer an den Hals und betrat mit ihm das Gebäude.

Wankend ging ich zu einer der nahen Bänke und ließ mich mit letzter Kraft darauf sinken. Dann rannen mir die Tränen über die Wangen.

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