Kapitel 13: Erinnerungen

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May

„Hier." Jenny gab mir ein Taschentuch und setzte sich dann neben mich auf die Bank. Ich war froh nicht mehr dort drinnen zu sein. Die frische Luft tat mir gut und langsam beruhigte ich mich auch wieder. Mit einem dankbaren Lächeln nahm ich das Taschentuch entgegen und wischte mir den Tränen weg.

„Kyle ist echt ein Arschloch. Es tut mir so leid. Ich hätte dich vor ihm warnen müssen", sagte Jenny und ich bemerkte, wie sie sich selbst Vorwürfe machte.

„Hey. Solche Typen gibt es leider überall. Obwohl ich gestehen muss, dass ich nicht vermutet hätte hier auf so jemanden zu treffen", erwiderte ich.

„Kyle kann sich leider sehr gut verkaufen. Du hast ja gemerkt, dass er nur so vor Selbstbewusstsein oder besser gesagt Egoismus strotzt. Aber wenn er so weiter macht, wird er nicht mehr lange hier sein. Seine Arbeit hat nämlich ziemlich nachgelassen und lässt zu wünschen übrig, habe ich gehört", erzählte sie.

„Solange er noch hier ist, versuche ich einfach ihm aus dem Weg zu gehen. Danke nochmal, dass du mich vor ihm gerettet hast", erwiderte ich.

„Klar, das war doch selbstverständlich. Außerdem erinnerst du mich an jemanden, der mir mal sehr noch immer sehr wichtig ist, ich aber schon lange nicht mehr gesehen habe." Jenny wandte ihren Blick ab und schaute für einen Moment traurig zu Boden, ehe sie sich wieder fing und ein Lächeln versuchte aufzusetzen. Aber ich durchschaute sie. Es war das erste Mal, dass ich sie so verletzlich erlebte. Auf der Party hatte ich gedacht, dass sie immer fröhlich und selbstbewusst wäre, wobei... immer ist ein Ding der Unmöglichkeit. Doch jedes Mal, wenn ich eine Person wie Jenny kennenlernte, vergaß ich, dass die meisten von ihnen auch noch eine andere Seite, eine verletzlichere Seite, haben.

Ich war mir unsicher, ob ich nachhaken sollte, entschied mich dann aber dafür.

„An wen... erinnere ich dich denn?", fragte ich vorsichtig nach.

Jennys Lächeln gefror und sie wandte erneut den Blick ab.

„Schon gut. Du musst mir es mir natürlich nicht erzählen. Ich wollte nicht aufdringlich sein", ruderte ich da auch schon wieder zurück.

„Nein, es ist schon okay." Sie zögerte kurz, ehe sie schließlich weiter redete.

„Du erinnerst mich an meine kleine Schwester", antwortete sie.

„An deine Schwester?", wiederholte ich leise ihre letzten Worte.

„Damit du verstehst, was ich meine, muss ich ein bisschen weiter ausholen. Ich hoffe, du hast ein bisschen Zeit", fing Jenny an.

„Da ich nicht vor habe zurück auf die Party zu gehen, habe ich den ganzen Rest des Abends Zeit", sagte ich und lächelte sie aufmunternd an.

„Na gut. Aber ich warne dich. Wie wahrscheinlich die meisten der Vergangenheiten hat es mit der großen Depression zu tun... Meine Eltern waren immer glückliche Menschen gewesen bis sie jedoch auch krank wurden. Meine Schwester und ich waren noch recht jung und dadurch noch nicht so anfällig dafür. Du weißt ja, dass die Wahrscheinlichkeit der großen Depression zu verfallen steigt, wenn man die Pubertät durchgemacht hat, weil sich dann der Hormonhaushalt verändert", meinte sie.

„Klar. Und mit steigendem Alter, wächst auch das Risiko mit", antwortete ich.

„Genau. Meine Schwester ist fünf Jahre jünger als ich und verstand daher noch nicht so recht, was mit unseren Eltern geschah. Es wurde so schlimm, dass sie schließlich ihre Jobs verloren, zur Flasche griffen und fast vergaßen, dass meine Schwester und ich existierten. Sie waren in ihren Depressionen zu sehr gefangen. Mir blieb also keine andere Wahl als mich selbst um meine Schwester zu kümmern. Ich sorgte dafür, dass sie in die Schule ging, etwas zu Essen hatte und versuchte für sie da zu sein", fuhr sie fort.

„Das finde ich echt toll, dass du das für sie gemacht hast. Obwohl das bestimmt nicht ganz einfach war", merkte ich an.

„Nein, das war es nicht. Wir hatten kaum Geld und daher musste ich... anders an die Sachen heran kommen. Ohne, dass es Geld kostete. Um es auf den Punkt zu bringen: Ich bin eingebrochen, um uns zu versorgen." Jenny verstummte kurz. Es war ihr deutlich anzumerken, wie unangenehm ihr das war zuzugeben.

Da ich nicht so recht wusste, was ich dazu sagen sollte, schwieg ich, bis sie schließlich weiter erzählte:

„In der einen Nacht machte ich den Fehler in eine ganz bestimmte Wohnung einzubrechen. Wobei das im Nachgang mein Glück war. Aber von vorne: In dieser einen Nacht brach ich bei Nicolas Johnson ein."

„Was?", entfuhr es mir in diesem Augenblick. Sie ist bei ihrem mittlerweile Vorgesetzten eingebrochen?

„Ja. Es lief auch nicht gut. Nicolas erwischte mich. Doch anstatt die Polizei zu rufen, fragte er mich nach dem Grund für den Einbruch. Ich war so geschockt und nervös gewesen, dass ich ihm alles erzählte. Von unseren Eltern, die sich nicht um mich kümmerten, über die Tatsache, dass wir kein Geld hatten bis ihn zu meiner kleinen Schwester, die ich versorgen musste. Jeden anderen hätte das wahrscheinlich nicht interessiert, aber Nicolas versprach mir uns zu helfen und hielt es. Er brachte meine Schwester und mich bei seinen Eltern unter, da seine Wohnung für uns alle zu klein war. Seine Eltern kümmerten sich so fürsorglich um uns. Meiner Schwester ging es vorerst auch sehr gut. Aber über die Jahre war sie natürlich älter geworden und verstand mittlerweile, was los war. Sie war wütend auf unsere Eltern. Außerdem überforderte sie die Fürsorge von Nicolas Eltern, da sie das einfach nicht kannte. Anfangs half es noch, dass ich auf sie einredete. Doch als ich schließlich anfing für Nicolas zu arbeiten, war ich während meiner Arbeitszeit natürlich nicht bei ihr, was sie eher schwer verkraftete. Irgendwann konnte sie nicht mehr und haute ohne ein Wort zu sagen ab." Jenny verstummte erneut. Ich sah die Tränen in ihren Augen und legte meine Hand auf ihre. Es war wirklich hart, was sie erlebt hatte.

„Nachdem wir sie nicht finden konnte, stürzte ich mich komplett in die Arbeit bei der Happy N.E.S. Company. Durch Nicolas entdeckte ich mein Talent fürs Schreiben und Kreieren von Geschichten. Er bot mir die Chance, die meine Rettung war. Und abgesehen von der Tatsache, dass ich nicht weiß, wo meine Schwester steckt oder ob es ihr gut geht, bin ich mittlerweile echt glücklich. Ich möchte nicht wissen, wo ich jetzt wäre, wenn es Nicolas nicht gegeben hatte", beendete sie ihre Geschichte.

„Wow. Ich weiß ehrlich nicht, was ich dazu sagen soll", erwiderte ich nach einer kurzen Phase des Schweigens.

„Alles gut. Auch, wenn man von vielen harten Schicksalen hört, man wird sich niemals daran gewöhnen. So geht es mir zumindest", erwiderte sie.

„Bei mir ist das ebenfalls so. Das mit deiner Schwester tut mir wirklich leid. Ich wünschte, ihr wäre es wie dir ergangen", sagte ich schließlich.

„Ja, aber die Vergangenheit lässt sich nicht ändern. Man kann sie nur akzeptieren und versuchen daraus zu lernen. Deswegen versuche ich auch immer zu helfen, wo ich nur kann."

„Glaub mir, du hast alles richtig gemacht. Du kannst leider nicht allen helfen oder schlimme Ereignisse verhindern. Manche Dinge geschehen einfach und egal, ob man es möchte oder nicht – man kann es nicht ändern. Du bist handlungsunfähig und dir bleibt nichts anderes übrig als zuzuschauen." Jetzt wandte ich den Blick zu Boden.

„Du scheinst es aber auch nicht leicht gehabt zu haben", bemerkte sie.

„Hatte überhaupt jemand es in dieser Zeit leicht?", warf ich ein.

Wir schwiegen beide und starrten hinaus in die Nacht, denn die Antwort war jedem von uns bewusst. Doch wie Jenny schon gesagt hatte: Die Vergangenheit lässt sich nicht ändern. So sehr man es sich auch wünscht. Wenn das möglich wäre, wären viele jetzt noch am Leben. Unter ihnen auch Alex.

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