Kapitel 12: Das Date - Klappe, die Zweite

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Anna

Mittlerweile war es ziemlich spät geworden. Der traumhaft schöne Sonnenuntergang, den Riley und Anna sich zusammen angeschaut hatten, war schon seit einiger Zeit vorbei. Aber Riley war vorbereitet: Er holte aus seinem Auto ein paar Fackeln, steckte sie in den Boden und zündete sie an. Außerdem hatte er zwei Decken mitgenommen und jetzt saßen die beiden noch immer aneinander gekuschelt und in den Decken eingewickelt auf der Decke und starrten hinaus aufs Meer in die Dunkelheit.

In Anna kamen erneut die Erinnerungen hoch. Als sie die schlimme Nachricht erfahren hatte, war es auch schon so dunkel gewesen und von diesem Moment an hatte sie das Meer gehasst. Sie wollte es ja mit schöneren Erlebnissen verbinden, aber es hatte ihr eine der wichtigsten Personen in ihrem Leben genommen: ihren Bruder. Riley hatte seinen Bruder ebenfalls verloren, jedoch auf eine andere Art. Er hatte zumindest noch die Möglichkeit ihn zu sehen, mit ihm zu reden, ihn zu umarmen.

„Hast du noch Kontakt zu ihm?", flüsterte Anna aus ihren Gedanken heraus.

„Du meinst meinen Bruder, oder?", erwiderte Riley.

„Ja."

Es entstand eine kurze Pause zwischen den beiden, die jedoch nicht unangenehm war. Beide genossen noch kurz den Moment, die Nähe zueinander, ehe Riley antwortete.

„Zuerst nicht, aber nachdem etwas Zeit vergangen war, hat er schließlich auf meine vielen Nachrichten und Anrufe reagiert. Mittlerweile haben wir regelmäßig Kontakt. Zwar nicht mehr so viel wie früher, aber besser als gar keiner."

„Das freut mich ehrlich für dich. Es ist schön, dass du wieder Kontakt zu ihm hast", sagte Anna und musste an ihrem Bruder denken. An die Nacht, wo ihre Mum weinend zusammengebrochen war und auch ihr Dad Mühe gehabt hatte sich auf den Beinen zu halten. Wie Anna machtlos da gestanden hatte und nicht wusste, was sie sagen oder tun sollte. Im ersten Moment setzte ihr Herz einen Schlag aus, dann vergaß sie zu atmen und musste sich daran erinnern wieder Luft zu holen. In diesem Moment hatte sie so unter Schock gestanden, dass sie nicht weinen konnte. Das war erst später gekommen, als sie mit der Zeit immer mehr realisiert hatte, dass sie ihren Bruder niemals mehr wiedersehen würde.

„Ich habe auch einen Bruder gehabt", platzte es da mit einem Mal aus ihr heraus. Mit diesen Worten kamen auch die Tränen und wieder leichte Kopfschmerzen.

„Auch die große Depression?", hakte Riley vorsichtig nach und verstärkte seine Umarmung noch ein wenig.

„Nein. Im Gegenteil. Mein Bruder war immer glücklich gewesen genauso wie meine Eltern. Die Depressionen bei meiner Mum und meinem Dad kamen erst danach. Mit dem Tod hatte alles angefangen und sie haben irgendwann keinen anderen Ausweg mehr gesehen, als zu meinem Bruder zu gehen. Aber er... Er hatte einen Unfall. Beim Segeln", brachte sie hervor.

„Deswegen reagierst du so panisch aufs Segeln", murmelte Riley, woraufhin Anna leicht nickte. Sie starrte weiterhin hinaus aufs Meer und stellte sich wie so oft vor, wie es passiert sein musste.

„Er war ein sehr guter Segler gewesen, der Beste, den ich kannte. Irgendetwas muss ihn abgelenkt haben. Vielleicht irgendetwas im Wasser, ein Fisch, ein Vogel oder... keine Ahnung. Aber etwas muss gewesen sein, dass seine ganze Aufmerksamkeit beansprucht hat, sonst wäre er nicht über Bord in die Wellen gefallen. Er war an diesem Tag alleine unterwegs gewesen. Sie haben seine Leiche nie gefunden. Die Strömung könnte sie überall hin getragen haben", redete sie weiter. Am Ende brach ihre Stimme und sie konnte ihre Schluchzer nicht mehr unterdrücken.

Riley drückte sie fest an sich. Anna fühlte sich in dieser Umarmung sicher, so, als würden seine Arme eine Mauer zur Außenwelt bilden. Gerade gab es nur ihn und sie.

„Das tut mir so unendlich leid für dich", murmelte er.

„Ich habe niemanden mehr. Jeder ist nach und nach von mir gegangen. Deswegen finde ich es auch so toll, was du für deine Eltern auf dich nimmst. Ich würde es auch tun, wenn ich noch die Chance dazu hätte", flüsterte Anna, den Blick noch immer starr aufs Meer gerichtet. Obwohl sie so viele negativen Erinnerungen und Gefühle damit verband, hatte es in diesem Moment eine beruhigende Wirkung auf sie und ihre Atmung normalisierte sich wieder. Mittlerweile waren zum Glück auch ihre Kopfschmerzen wieder verschwunden. Warum musste ihre Vergangenheit nur so schmerzhaft sein, dass sie diese Schmerzen sogar physisch spüren konnte? Anna konnte das Lichtspiel der untergehenden Sonne auf dem Wasser sehen, was sie wie magisch in ihren Bann zog. Es war unbeschreiblich und Riley, der sie noch immer festhielt, gab ihr ein Gefühl von Sicherheit und Kontrolle, dass sie schon lange nicht mehr gespürt hatte – vor allem in den letzten Jahren nicht.

Ruhig starrten die beiden hinaus aufs Wasser in die Dunkelheit und hingen ihren Gedanken nach. Doch schließlich brach Riley das Schweigen.

„Okay, das kann so nicht weiter gehen. Eigentlich sollte das ein Tag werden, an den wir schöne Erinnerungen haben und nicht einer, wo wir in vergangenen, schlechten Zeiten hängen. Also, schaffen wir ein paar Erinnerungen, an die wir gerne zurück denken", sagte er, stand auf und ging kurz zu seinem Auto. Anna schaute ihm nur schweigend hinterher. Es dauert nicht lange, bis er zurückkam. In seiner Hand hatte er seine Musikbox sowie zwei Fackeln. Bei Anna angekommen, steckte er die beiden Fackeln links und rechts von der Decke in den Boden und zündete sie an. Sofort wurde es heller und auch ein bisschen wärmer. Danach stellte er die Box hin, verband sein Hany damit und deutete dann eine Verbeugung vor Anna an.

„Darf ich um diesen Tanz bitten?", fragte er und streckte ihr seine Hand entgegen.

Auf Annas Lippen blitzte unwillkürlich ein Lächeln auf. Sie griff nach Rileys Hand und ließ sich von ihm hochziehen. Er zog sie dicht zu sich und begann dann sich im Takt zu „Wie es geht" von den Ärzten zu bewegen. Mit diesem Lied hatte er Anna ziemlich überrascht. Es war zwar ein Liebeslied, aber keins von diesen typisch langsamen, zu denen man eng umschlungen tanzt. Genau deswegen mochte sie Riley so sehr. Er gab ihr Geborgenheit und Sicherheit und schaffte es dabei dennoch sie zu überraschen und zum Lächeln zu bringen.

Anschließend wechselte das Lied allerdings doch zu „Perfect" von Ed Sheeran. Riley schaute Anna kurz in die Augen, ehe er sie wieder an sich zog und mit ihr umschlungen tanzte. In diesem Moment fühlte Anna sich so gut, wie schon lange nicht mehr. Sie genoss die Nähe zu Riley und lehnte ihren Kopf an seinen Oberkörper. Sein Geruch umhüllte sie und ließ sie alles, was sie sonst immer so sehr beschäftigte und einfach nicht los ließ, für ein paar Augenblicke vergessen. Sie war einmal normal – zumindest so normal, wie es in dieser Welt möglich war.

„Danke", flüsterte sie.

„Kein Problem", erwiderte er und wiegte sich weiterhin mit ihr in den Armen im Takt zur Musik.

Dieser Moment war für Anna perfekt. Der Titel von Ed Sheerans Lied hätte es nicht passender beschreiben können. Sie fühlte sich so wohl. Riley gab ihr alles, was sie gerade brauchte und sie war froh, dass er bei ihr war.

Noch bevor das Lied zu Ende war, beschloss Anna ihr Herz wieder zu öffnen und mutig zu sein. Sie hob den Blick und sah in Rileys blau-grauen Augen, in denen sie sich wieder einmal für einige Sekunden verlor. Doch sie riss sich zusammen, stellte sich auf die Zehenspitzen und zog ihn zu sich herunter. Als sich ihre Lippen berührten, hätte sie nicht glücklicher sein können. In ihrem Bauch brach das komplette Chaos bei den Schmetterlingen aus, die von links nach rechts, von oben nach unten und dann wieder zurück flatterten. Wobei das wohl eher keine Insekten, sondern einfach nur die Hormone waren. Anna lächelte in sich hinein und schob diese Gedanken wieder beiseite. In diesem Moment war sie nur eine junge Frau, keine Wissenschaftlerin, die erklären musste, was hier gerade genau passierte. Jetzt sollte sie einfach nur diesen Moment genießen. Der nächste Tag würde anstrengend und überraschend genug werden. Doch das wusste Anna zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

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