Kapitel 30: Die Wahrheit

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Anna

Liam Petersen. Das war sein Name gewesen.

Während Anna den nächsten Eingriff vorbereitete, war sie mit ihren Gedanken noch bei ihrem letzten Patienten. Nachdem sie ihn in den Aufwachraum gebracht und gewartet hatte, bis er wach war, hatte sie sich mit ihm unterhalten. Dabei hatte sie auch seinen Namen erfahren. Ihr schlechtes Gewissen und ihre Zweifel wurden dadurch leider nicht geringer, aber wenigstens hatte sie es versucht. Sie hatte sich geschworen nie wieder einen Eingriff bei jemandem durchzuführen, der sich so heftig wehren würde. Sie bekam Liams Schreie, seine Stimme und Wehrungen einfach nicht mehr aus ihrem Kopf.

Die Tür zu Raum 9 öffnete sich. Anna nahm noch die letzten Einstellungen am Roboter vor. Dann fiel er jedoch auf, dass es scheinbar noch keine CT gab, was für die richtige Arbeit des Roboters zwingend erforderlich war. Wurden überhaupt schon alle Tests durchgeführt?

Sie drehte sich um. Einige der Mitarbeiter hatten eine junge Frau hereingebracht, die sie mit offenem Mund und scheinbar geschockt anstarrte. Stimmte irgendetwas nicht an ihr? Unauffällig sah Anna an sich herunter, konnte aber nicht nichts Auffälliges entdecken. Dann wandte sie sich Dr. Brown zu.

„Mir ist gerade aufgefallen, dass wir noch gar kein CT von der Patientin haben. Wurden schon alle Tests durchgeführt?", fragte sie.

„Leider hatten wir dafür nur wenig Zeit. Die Gespräche mit Psychologen und Beratschlagungen mit anderen Ärzten wurden durchgeführt, die Tests jedoch noch nicht. Die notwendigsten müssten Sie im Vorwege noch einmal machen. Glauben Sie aber nichts von dem, was diese Person Ihnen erzählt. Sie ist psychisch labil, wie Sie auch dem Gutachten entnehmen können. Ignorieren Sie am besten, was sie sagt. Machen Sie einfach Ihre Arbeit", antwortete Evelyn.

Bei den letzten Sätzen war Anna immer mehr hellhörig geworden. Sie sollte ihr kein Wort glauben? Ein mulmiges Gefühl breitete sich in ihr aus. Hier stimmte irgendetwas nicht. In dem Moment machten sich wieder einmal starke Kopfschmerzen bemerkbar. Mit ihren Fingern fing sie an ihre Schläfen zu massieren.

„Ist bei Ihnen alles gut, Anna?" Dr. Evelyn Brown sah sie kurz besorgt an.

„Ja, alles bestens. Nur ein bisschen Kopfschmerzen. Geht schon wieder", erwiderte sie und war froh, dass die Kopfschmerzattacke dieses Mal nicht lange angedauert hatte.

„Sehr gut. Für heute ist auch nur noch dieser Eingriff geplant." Die Doktorin wandte sich wieder dem Bildschirm zu.

Anna ging auf die neue Patientin zu.

„Ich bin Anna und werde heute den Eingriff durchführen", stellte sie sich vor.

„Danke. Sie können jetzt gehen", meinte sie zu den anderen Mitarbeitern, die daraufhin den Raum verließen.

Die junge Frau sah ihnen kurz nach und starrte sie dann wieder an. Bisher hatte sie noch kein Wort gesagt. Da fiel es Anna nicht schwer ihr nichts zu glauben. Das Verhalten gefiel ihr trotzdem nicht. Bevor sie den Eingriff durchführen würde, wollte sie sich mit ihr unterhalten, um mehr über ihre Beweggründe für den Chip zu erfahren und herauszufinden, ob sie das wirklich freiwillig machte. Doch dabei konnte sie Dr. Brown nicht gebrauchen. Sie würde das nicht verstehen.

„Dr. Brown?"

„Ja?"

„Ich würde diesen Eingriff dieses Mal gerne alleine durchführen. Wäre das für Sie in Ordnung?" Anna sah sie hoffnungsvoll an und hoffte, dass Dr. Brown ihr nicht anmerken würde, dass ihr eigentlicher Grund sie loszuwerden war. Zwar wollte sie mittlerweile auch einen Eingriff alleine durchführen, da sie das jetzt schon einige Male getan hatte, aber das war gerade nicht der Hauptgrund. Evelyn musterte sie prüfend.

„Fühlen Sie sich auch wirklich sicher genug dafür?", hakte sie nach.

„Ich habe jetzt schon einige Eingriffe mit dem Roboter durchgeführt und weiß, worauf ich achten muss. Durch Sie habe ich wirklich viel gelernt, aber ich möchte mich gerne auch weiterentwickeln und dazu gehört auch das selbstständige durchführen und überwachen. Sobald ich Hilfe brauchen sollte, kann ich sie ja über das Telefon sofort erreichen", antwortete Anna und war froh, dass ihre Stimme fest und selbstsicher klang.

„Na gut. Ich weiß ja, dass Sie gut sind und das auch alleine schaffen. Aber scheuen Sie sich nicht davor mich gegebenenfalls hinzuzuziehen", stimmte sie schließlich zu.

„Ich gebe Ihnen mein Wort", lächelte Anna.

Dr. Brown erwiderte darauf ein kurzes Nicken und verließ dann den Raum.

Anschließend wandte Anna sich ihrer Patientin zu.

„Wie heißen Sie?", fragte sie und bedeutete ihr auf einem der Stühle Platz zu nehmen. Die junge Frau ließ sich auf einen der Stühle fallen und Anna setzte sich ihr gegenüber.

„Anna?", fragte sie.

„Ja, ich bin Anna. Ich habe mich Ihnen ja bereits vorgestellt. Doch bevor ich den Eingriff durchführe, möchte ich gerne mehr über sie erfahren", antwortete sie.

„Erinnerst du dich gar nicht an mich? Ich bin's. May", erwiderte die Patientin und brachte Anna damit komplett aus dem Konzept. Sie kannte sie? Woher? Was hatte das alles zu bedeuten? In dem Moment kamen ihre Kopfschmerzen wieder.

„Okay, also Ihr Name ist May", wiederholte sie und versuchte sich ihre Verwirrung und Kopfschmerzen nicht anmerken zu lassen.

„Du hast wirklich keine Ahnung, wer ich bin?" Traurig sah sie Anna an, die kaum merklich, den Kopf schüttelte.

„Vielleicht ist das auch besser so. Immerhin trage ich die Schuld an Alex' Tod", murmelte May vor sich hin.

Anna wurde hellhörig. Alex? May war schuld am Tod ihres Bruders? Jetzt wollte sie es genau wissen.

„Was hast du mit dem Tod meines Bruders zu tun?", fragte sie aufgebracht.

May sah leicht panisch auf und blickte ihre direkt in die Augen.

„Anna. Wir waren doch beide mit auf dem Segelboot. Wir haben gesehen, wie er über Bord gegangen ist. Und ich habe Schuld daran. Hätte ich ihn ein paar Tage vorher nicht geküsst, hätte er darüber nicht nachgedacht, wäre nicht abgelenkt gewesen und nicht über Bord gegangen. Ich habe das nicht gewollt. Wirklich. Das musst du mir glauben", antwortete sie. Während May redete sammelten sich Tränen in den Augen, die ihr kurz darauf übers Gesicht liefen.

Fassungslos saß Anna da und starrte sie mit weit aufgerissen Augen an. Ihre Kopfschmerzen wurden immer stärker und wurden langsam unerträglich. Mit ihren Händen massierte sie ihre Schläfen, aber leider half das diesmal nicht.

„Anna, du musst dich doch daran erinnern. Zumindest an mich. Wir waren bis zu diesem Unglück beste Freundinnen. Ich kenne dich seit dem Kindergarten. Wir waren unzertrennlich und haben uns fast jeden Tag gesehen. Auch mit Alex haben wir uns gut verstanden und viel unternommen. Ich hätte dir von meinen aufkommenden Gefühlen für ihn erzählen müssen, aber ich wusste nicht, wie du reagieren würdest und wollte nicht unsere Freundschaft gefährden", fuhr May fort.

In diesem Moment hatte Anna das Gefühl ihr Kopf würde explodieren. Sie fiel vom Stuhl und knallte auf dem harten Boden auf. Sie krümmte sich, schrie vor Schmerzen und hielt sich den Kopf. Was passierte hier gerade?

„Anna? Was ist mit dir?", hörte sie Mays Stimme.

„Rede mit mir. Was ist mit dir?" Verzweifelt versuchte May ihr zu helfen und kniete neben ihr.

„Mein Kopf", keuchte Anna und krümmte sich erneut.

Sie hatte das Gefühl eine Blockade im Kopf zu haben, die ihr nichts als Schmerzen bereitete.

Plötzlich blitzte in ihren Gedanken ein Bild von May und ihr als Kinder auf. Dann eins von dem Segelboot, mit dem die beiden zusammen mit Alex raus gefahren waren. Wie er über Bord in die Fluten gefallen war. Wie er nicht wieder aufgetaucht war. Die Erinnerungen prasselten nur so auf sie ein und schienen sie zu erschlagen. Tränen rannten ihr über die Wangen.

Und dann erinnerte sie sich an den Grund für ihre fehlenden Erinnerungen und ständigen Kopfschmerzen, wenn sie an ihre Vergangenheit denken musste: Sie hatte sich einen Chip implantieren lassen.

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