Kapitel 15: Alex

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May

Panisch riss ich die Augen auf und schreckte hoch. Ich brauchte einige Sekunden bis ich realisierte, dass es nur ein Traum gewesen war. Ein Traum von Alex. Langsam ließ ich mich zurück in die Kissen fallen und warf einen Blick auf meinen Wecker. Zehn Uhr. Nach dieser Party, war das definitiv zu früh, um aufzustehen. Außerdem war Samstag. Ich versuchte noch ein wenig zu dösen, aber meine Gedanken ließen mich nicht. Immer wieder schweiften sie zu meinem Traum...

Diesen Abend werde ich wohl niemals vergessen können. Die Vergangenheit lässt einen nicht los. Alex und ich kannten uns schon seit wir Kinder gewesen sind. Er war zwar zwei Jahre älter gewesen, aber das hatte nie zwischen uns gestanden. Trotzdem hatten wir uns immer gut verstanden. An diesem Abend waren wir zusammen auf einer Party von einem seiner Kumpels gewesen. Schon draußen auf der Straße hatte man die Musik hören und das Dröhnen der Bässe spüren können.

„Die Party scheint ja schon in vollem Gange zu sein", hatte ich festgestellt, während Alex geklingelt hatte. Nach einigen Sekunden ertönte das Surren und wir betraten den Hausflur. Ich wunderte mich, dass überhaupt jemand die Klingel bei dieser Geräuschkulisse gehört hatte.

Als wir oben ankamen, waren schon viele Leute da. Die Wohnung war sehr voll, mir persönlich fast schon zu voll. Ich hielt mich an Alex und zusammen schlängelten wir uns durch die Menschen, bis wir schließlich die Stimme von seinem Freund Luca hörten.

„May, Alex, wir sind hier!", rief er und winkte sich zu uns.

„Endlich seid ihr da", begrüßte er erst Alex mit Handschlag und dann mich mit einer liebevollen Umarmung. Zu dem Zeitpunkt hatte ich noch keine Ahnung, dass Luca mehr als nur freundschaftliche Gefühle hatte. Vielleicht hätte es etwas geändert, andererseits... für seine Gefühle kann man nichts. Man kann sich nicht aussuchen in wen man sich verliebt. Sonst hätte ich meine romantischen Gefühle für Alex definitiv abgestellt. Die passten mir nämlich so gar nicht in den Kram. Seine Schwester war meine beste Freundin und ich wollte nicht, dass unsere Freundschaft kompliziert wurde. Nur leider wuchsen mit jedem Aufeinandertreffen mit Alex meine Gefühle für ihn mehr und mehr.

Ich musterte ihn unauffällig von der Seite und musste unwillkürlich lächeln. Mit seinen braunen Haaren, die ihm leicht verstrubbelt ins Gesicht fielen, dem dunkelblauen Hemd und der grauen Jeans sah er einfach süß an. Wenn er lächelte hatte er rechts ein Grübchen und seinen braunen Augen konnte ich nicht widerstehen. Jedes Mal, wenn er mich ansah, war es mittlerweile um mich geschehen.

Spätestens in diesem Moment wurde mir bewusst, dass es längst zu spät war. Ich war schon bis über beide Ohren, nein, schon bis über den Kopf in ihn verliebt. Allerdings bezweifelte ich, dass er genauso fühlte wie ich.

„May, wollen wir tanzen?" Lucas Frage hatte das perfekte Timing. Ich brauche kurz Abstand von Alex, um diesen Gedanken erstmal zu verarbeiten. Ohne eine Antwort schnappte ich mir Luca und zog ihn mit mir auf die Tanzfläche. Eigentlich hätte mir beim Tanzen auffallen müssen, wie sehr Luca den Kontakt zu mir suchte, aber ich war mit meinem Kopf ganz woanders und bemerkte rein gar nichts davon. Im Nachhinein ergibt so vieles Sinn. Aber ist das nicht meistens so? Hinterher ist man immer schlauer.

„Ey, lasst uns mal Flaschendrehen spielen!" Das kam von Linus, dem Arschloch und Aufreißer schlechthin. Er hatte den ganzen Abend Bier und Wodka getrunken, als würde es kein Morgen geben. Auch mein Alkoholpegel war definitiv nicht mehr niedrig, aber wenn ich das alles getrunken hätte, würde ich jetzt nicht mehr hier stehen. Allerdings musste ich zugeben, dass der Alkohol mir half meine verwirrenden Gefühle zumindest für einige Zeit beiseite zu schieben.

Innerlich verdrehte ich die Augen über Linus' Vorschlag.

„Das ist doch total kindisch. Wir sind schließlich nicht mehr in der Grundschule", erwiderte Joe da auch schon genau das, was mir durch den Kopf gegangen war.

Ich weiß nicht, ob es am Alkoholpegel lag oder an den vielen verschiedenen Meinungen, aber plötzlich fand ich mich in einem Kreis mit einer leeren Bierflasche in der Mitte wieder. Scheinbar hatte sich Linus doch durchgesetzt.

Die Flasche wurde gedreht und während ich der Kreisbewegung zusah, bemerkte ich, dass ich scheinbar doch schon mehr Alkohol intus haben, als ich anfangs gedacht hatte. Mit jeder weiteren Umdrehung wurde mir ein bisschen schwindliger. Luca hatte sich neben mich gesetzt. Während ich den ganzen Abend meistens erfolgreich versucht hatte Alex aus dem Weg zu gehen, war Luca kaum noch von meiner Seite gewichen. Eigentlich wäre es jedem außer mir sofort aufgefallen, dass er mehr als nur freundschaftlich Gefühle für mich hatte. Aber ich war so in meinem Gedankenkarusell gefangen, dass ich das gar nicht richtig realisierte.

Von lauten „Uhhs" und Gegröle wurde ich zurück in die Realität katapultiert. Ich brauchte ein paar Sekunden ehe ich die Flasche bemerkte, die auf mich zeigte. Den Reaktionen nach zu urteilen stand auch schon fest, was ich machen musste. Leider hatte ich anfangs gar nicht aufgepasst und saß nun hilflos und ahnungslos da.

Doch dann stand Linus leicht torkelnd auf und kam auf mich zu. Mein von Alkohol benebeltes Gehirn versuchte diese Information so gut es ging zu verarbeiten, aber was mir blühte wurde mir erst so richtig bewusst, als Linus direkt vor mir auf dem Boden saß.

„Dann wollen wir mal", sagte er und zog mich da auch schon zu sich heran. In dem Moment schrillten bei mir alle Alarmglocken, aber der Alkohol sorgte dafür, dass ich langsamer als normal reagierte. Aber noch bevor unsere Lippen sich berührten, zog jemand Linus heftig von mir weg. Alex! Sofort sprangen einige der anderen Jungs auf und versuchten die beiden zu trennen. Sie brauchten ihre gesamten Kräfte, schafften es jedoch schlussendlich. Danach kam Alex direkt auf mich zu, half mir hoch und zog mich hinter sich her auf den Balkon, wo gerade niemand war.

„Was soll das? Du hättest gerade fast das größte Arschloch auf dieser Welt geküsst. Du weißt doch, wie er ist!", schrie er mich an.

Mein Gehirn brauchte lange, sehr lange, um die Worte zu erfassen.

„Das war Flaschendrehen. Außerdem wusste ich nicht, dass ausgerechnet er mich küssen sollte", antwortete ich schließlich ein wenig lallend.

„Warum hast du da überhaupt mit gemacht?", fragte er noch immer wütend, aber zumindest schon mal etwas ruhiger. Ich weiß nicht, was mein Kopf in diesem Moment fabrizierte, aber ich kam auf die wilde Vermutung, dass Alex' Verhalten damit zu tun haben könnte, dass ich fast einen anderen als ihn geküsst hätte, was wiederum bedeuten würde, dass er die gleichen Gefühle für mich wie ich für ihn hatte.

Langsam machte ich einen Schritt auf ihn zu, bis ich schließlich dicht vor ihm stand. Da er größer als ich war, stellte ich mich auf die Zehenspitzen, legte meine Hände um seinen Nacken und küsste ihn. Ich war mir sicher, dass er ihn in der ersten Sekunde erwiderte, doch dann kam leider doch alles ganz anders als ich gedacht hatte.

„Was machst du denn da?!" Alex drückte mich leicht von ihm weg und sah mich geschockt an.

„Ich dachte... weil du doch... Linus weg gezogen...", stammelte ich hilflos.

„May, das habe ich gemacht, weil du nicht eine von Linus Trophäen werden sollst. Du bist für mich wie eine Schwester. Außerdem steht Luca auf dich und ihn hätte das noch mehr fertig gemacht. Aber er ist viel zu lieb dafür, um sich zu prügeln", erklärte er.

Autsch. Aufprall. Harter Boden. Ich starrte ihn nur an und wusste nicht, was ich sagen sollte.

„Luca steht schon länger auf dich. Das musst du doch bemerkt haben", redete Alex weiter. Ich schüttelte nur langsam den Kopf und versuchte noch immer die Situation zu begreifen.

„Dann weißt du es jetzt. May, du bist für mich wie eine Schwester, also lass uns das einfach vergessen, okay?", sagte er und sah mich mit seinen braunen Augen an. Da war es wieder um mich geschehen und nickte nur schweigsam. Was sollte ich dazu auch sagen? Allerdings hatte der Kuss Alex scheinbar doch mehr beschäftigt, als er zugeben wollte. Sonst hätte er es bei unserem Ausflug am Wochenende darauf nicht nochmal einmal angesprochen. Und er wäre auch nicht so unaufmerksam gewesen und jetzt wahrscheinlich noch am Leben.

Tränen stiegen mir wie so oft seit dem Unfall in die Augen und ich vergrub mein Gesicht in den Kissen. An Schlaf oder etwas Ähnliches war nicht mehr zu denken. Daher beschloss ich schließlich aufzustehen, aber meine Gedanken schweiften ständig ab. In meinem Kopf spukte immer wieder dieser eine Satz: Ich bin schuld an seinem Tod.

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