Völlig verwirrt begann ich zu lesen. Ich versuchte mit aller Kraft diese Situation zu verdrängen, doch ich musste immer wieder daran denken, wie nah mir Elyas war, sein Geruch, seine Augen, die Gänsehaut, die seine Nähe bei mir auslöste.
Immer wieder begann ich ein und den selben Satz von vorne zu lesen, da ich mich einfach nicht konzentrieren konnte.
Was stimmte bloß nicht mit mir?
Nein, was stimmte nicht mit ihm?
Er machte es mir nicht leicht die Situation einfach hinzunehmen. Er machte mich extrem wütend.
Irgendwann gelang es mir endlich trotzdem, mich auf das Buch zu konzentrieren. Ich las so lange, bis meine Augen schwer wurden und ich in immer kürzeren Abständen gähnen musste.
Dann entschied ich mich zu schlafen.Ich wurde sehr früh am nächsten Morgen von lauter Musik geweckt.
Aber das war okay, ich war ausgeschlafen und konnte sowieso nicht mehr schlafen also stand ich auf, machte mich fertig und ging hinunter in die Küche, aus der die laute Musik kam.
Ich traute meinen Augen nicht. In der Küche stand ein munterer Tim, der tänzelnd Kaffee kochte.
Wie konnte ein so lieber Mensch in so einer kaputten Familie sein? Wie konnte er anfangs überhaupt eine solche Angst bei mir ausgelöst haben?
Ich meine, er hörte Harry Styles und lachte über Flachwitze.
Ich setzte mich an den Tresen und beobachtete ihn noch für einen Moment, ehe ich mich mit einem Räuspern auf mich Aufmerksam machte.
Er fuhr herum und grinste mich an, dann drehte er die Musik leiser.
„Guten Morgen, auch einen Kaffee?"
Fragte er freundlich.
Ich nickte. Er drehte sich wieder weg und begann einen zweiten Kaffee zu kochen.
Dann setzte er sich zu mir.
„Ich bin wirklich froh, dass du jetzt hier bist."
Sagte er und wirkte dabei tatsächlich aufrichtig. Für mich war das nur schwer vorstellbar aus offensichtlichen Gründen.
Ich zog eine Augenbraue hoch.
„Wirklich?"
Entgegnete ich ungläubig.
„Ich komm' mir vor, als wäre ich nur eine Last für euch."
Tim schüttelte den Kopf.
„Im Gegenteil. Du bringst unsere Frauenrate nach oben."
Wir lachten beide.
„Nein, im Ernst. Ich hab' das Gefühl, dass du unserer Familie gut tust, vor allem Elyas."
Das war nun wirklich schwer zu glauben. Ich konnte nicht anders als ungläubig darüber zu lachen.
„Nie im Leben, Elyas hasst mich."
Natürlich tat er das, das sah sogar ein Blinder.
Doch Tim war anderer Meinung.
„Mein Bruder ist kompliziert. Gib ihm ein bisschen Zeit, vertrau mir."
Er schien zuversichtlich, jedoch war das für mich schwer vorstellbar.
Ich zuckte als Antwort mit den Schultern und nahm einen Schluck von meinem Kaffee. Ich wollte unbedingt das Thema wechseln.
„Tim, kann ich dich was fragen?"
Begann ich. Er schien mir als eine kompromissfähige Person, mit der man über alles sprechen konnte. Deswegen war ich froh darüber an diesem Morgen zuerst ihn anstatt Elyas getroffen zu haben.
Erwartungsvoll zog er die Augenbrauen in die Höhe.
„Nun ja, ich bin ja jetzt schon seit ein paar Tagen hier, seitdem war ich nur für höchstens fünf Minuten draußen und ich wollte dich fragen,"
-Sein Gesichtsausdruck versteinerte-
„Meinst du ich könnte heute vielleicht ein bisschen nach draußen? Der Garten reicht, von da aus kannst du mich sehen und ich habe ja sowieso den Chip im Nacken. Es muss auch nicht lange sein, ich will nur ein bisschen an die frische Luft."
Es fühlte sich so erbärmlich an, einen jüngeren um Erlaubnis für etwas selbstverständliches zu fragen.
Er sah mich kritisch an.
„Naja, dadurch dass du nicht einmal versucht hast abzuhauen, können wir dir ja schon vertrauen, trotzdem kenne ich dich noch nicht lange genug, um zu durchschauen ob das vielleicht doch eine List ist.
Du darfst nach draußen, aber ich werde mitkommen, wir können nach dem Frühstück einen Spaziergang im Wald machen."Ich diskutierte nicht lange. Er meinte „So oder gar nicht." Und mit ihm einen Spaziergang zu machen, war mir lieber als drinnen weiter zu verstauben.
Wir gingen einfach nebeneinander her und redeten nicht viel. Ich wollte die Natur genießen und er schien lustlos und gelangweilt.
Ich atmete tief durch und freute mich über jedes kleine Detail dieses wunderschönen Waldes.
„Verstehst du dich eigentlich mit Elyas?"
Fragte Tim auf einmal aus dem nichts.
Schon wieder Elyas. Ich hatte das ungute Gefühl, dass Tim über unsere nächtlichen Gespräche bescheid wusste und nun versuchte mehr darüber herauszufinden.
Wahrscheinlich war es auch so und er machte sich einen Spaß daraus, wie peinlich.
„Es geht, naja... Ich werd einfach nicht warm mit ihm, verstehst du?"
Entgegnete ich vorsichtig, ich wusste nicht ganz, wie ich es ausdrücken sollte.
Tim lachte.
„Elyas ist voll in Ordnung, wirklich. Er ist nur distanziert. Er passt auf, mit wem er redet und wem er sich anvertraut. Außerdem ist er einfach ein bisschen... Er hat einfach Angst, verstehst du?"
Angst? Ich konnte mir bei Elyas jede menge Emotion vorstellen, Angst war jedoch keine davon.
„Wovor sollte er denn Angst haben? Er ist einfach unreflektiert und eingebildet. Und wie er sich verhält..."
Ich merkte, wie ich mich aufregte und entschied, lieber nicht weiter zu reden.
Tim grinste neben mir.
„Ja, er macht oft auf cool. Glaub mir, es ist reinste Fassade."
Klärte er mich auf.
„Warum erzählst du mir das überhaupt?"
Fragte ich.
„Elyas kann mit seinen Fassaden machen, was er will.
Solange er mir nicht auf die Nerven geht."
Ich war genervt.
Da wollte ich einmal weg von diesem Haus und damit auch von diesem aufgeblasenen möchtegern Macho, da musste mich sein Bruder, der mir eigentlich sympathisch war, auch noch mit ihm nerven.
„Schon verstanden, du willst nicht drüber reden."
Beendete Tim das Gespräch. Endlich hatte er es verstanden.
Den Rest des Spaziergangs sagte keiner von uns mehr ein Wort, war vielleicht auch besser so.
Als wir ankamen, wurden wir schon von einem aufgebrachten Elyas erwartet.
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Stockholm
RomanceMehr und mehr realisierte ich, dass „Bis der Tot uns scheidet", kein Segen war. Es war ein Fluch. Kenna's Leben könnte banaler gar nicht sein. Ihre Zeit verbrachte sie schon immer im Schatten anderer, bis sie an einem schicksalhaften Abend zur fals...