Kapitel 9

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Ich konnte nicht mehr stark sein. Ich hatte es mir selbst versprochen, aber es war zu viel. Ich konnte meine Emotionen nicht mehr zurückhalten.
Ich ließ alles raus, was sich in den letzten Tagen auf schmerzhafte Art und Weise in mir anstaute. Ich konnte mich gar nicht mehr beruhigen und wurde für kurze zeit panisch, an meinen eigenen Tränen zu ersticken.
Nach dem fünften Beruhigungsversuch, gelang es mir endlich, mich so weit zu beruhigen, dass ich zumindest wieder normal atmen konnte.
Ich rappelte mich auf und schleppte mich zum Bett. Noch immer liefen mir die Tränen unkontrollierbar über mein Gesicht, da ging plötzlich die Tür auf.
Natalia stand im Türrahmen und sah mich erschrocken an.
Sofort eilte sie zu mir und nahm mich behutsam in den Arm.
Kurz zögerte ich, doch dann erwiderte ich ihre Umarmung.
„Ist schon gut."
Flüsterte sie immer wieder in mein Ohr. Doch nichts war gut.
Nach einer Weile löste sie sich wieder von mir und sah mich auffordernd über meine Gefühle zu sprechen an, während sie meine Haare streichelte.
Das hatte ich tatsächlich gebraucht. Eine Umarmung, die sich einfach wie eine Mutter Umarmung anfühlte. Ich vermisste meine Mutter so schrecklich, und ihre Umarmungen.
„Das ist krank, ihr seid so krank!"
Schluchzte ich, immer noch nicht fähig, einen klaren Gedanken zu fassen.
Sie nickte.
„Ich weiß, mit dieser Reaktion hatte ich schon gerechnet. Und ich verstehe, dass du aufgebracht bist."
Entgegnete sie verständnisvoll.
„Ich weiß du kannst und willst uns nicht vertrauen, aber vielleicht kannst du es versuchen? Du solltest anfangen zu verstehen, dass wir hier nicht die Bösen sind, auch wenn es sich so anfühlt. Aber da draußen sind viel schlimmere Menschen. Und zu diesem Zeitpunkt bist du nirgendwo so sicher, wie hier, in unserer Obhut."
Ich sah sie entgeistert an, das konnte nicht ihr Ernst sein.
„Kann es sein, dass ihr mehr über mich wisst als ich selbst?"
Fragte ich. Aber wollte ich denn die Antwort hören?
Natalia schüttelte den Kopf.
„Alles zu seiner Zeit. Verstehe nur, dass du nicht mehr sicher bist, wenn du nachhause gehst."
Das sagte sie nun zum wiederholten mal doch ich verstand es trotzdem nicht. Fragend zog ich die Augenbrauen zusammen. Langsam beruhigte ich mich wieder ein wenig. Es war wieder Natalias empathische Art, bei der ich mir immer noch nicht sicher war, ob sie gespielt war, um mich zu manipulieren oder ob es ihr tatsächlich am Herzen lag, mich aufzumuntern.
„Ich verurteile dich nicht. Gott, würde mir jemand meine Jungs wegnehmen, ich wäre außer mir."
Schimpfte sie beinahe.
„Für meine Söhne würde ich töten, sie sind alles für mich. Genauso, wie du alles für deine Eltern bist. Doch du, wie auch sie müssen sich mit der Tatsache abfinden, dass diese Zeit vorbei ist. Irgendwann wirst du es verstehen."
Sie klang so zuversichtlich, dass ich es schon fast selber glaubte.
„Ich will mich nicht wie deine Mutter aufspielen. Das bin ich nicht, und das möchte ich auch nicht. Aber vielleicht kannst du mich ja irgendwann als Freundin akzeptieren?"
Ich lächelte sie anmutig an. Eine Antwort konnte ich auf das ganze noch nicht finden, doch das war okay, Natalia verstand sofort und sprang auf.
„Nun gut, geh zu Elyas, wenn du kannst, ja?"
Erinnerte sie mich abschließend.
„Wo finde ich ihn denn?"
Fragte ich.
„Höchstwahrscheinlich in seinem Zimmer, den Gang runter."
Entgegnete sie. Ein letztes herzliches Lächeln, dann verschwand sie und schloss hinter sich die Tür.
Ich atmete tief durch. Das war eine Menge zu verarbeiten und das war ja nicht mal alles. Ich sollte dieser Familie bei ihren Drogengeschäften helfen? Wie konnte sich mein Leben von einen auf den Tag in einen Action Film verwandeln?
Fragen über Fragen.

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