Kapitel 40

50 2 0
                                    

Ich sah meiner Mutter direkt ins Gesicht, doch ich erkannte sie nicht wieder.
Die Mordlust, die sich in ihren eisblauen Augen widerspigelte, passte nicht zu ihr.
Wer war sie?
Ich hinterfragte auf einmal meine ganze Existenz.
Diese Frau, die in diesem Moment vor mir stand und mir am liebsten mit ihrer AK-47 das Gehirn wegpusten würde, war nicht dieselbe Frau, die mich achtzehn Jahre lang großzog.
Mir jede Träne wegwischte, immer weise Worte auf Lager hatte, wenn ich nicht weiter wusste und immer für mich da war.
Das war nicht sie.
Wie hätten wir drei die quasi noch Kinder waren, jemals eine Chance gegen zwanzig von diesen Gewehrtragenden Gorillas?
Und wo blieben Natalia und Marco?
Doch wenn man vom Teufel sprach, tauchten die Beiden, wie zwei Engel auf einer höheren Plattform auf und schossen ein paar mal in die Menge, wobei sie einige der Männer trafen, woraufhin meine Mutter zurückschoss.
Ab diesem Moment verlief alles wie in Zeitlupe. Ich war gefühlt nicht mehr mächtig über meinen Körper, ich sah die Situation nicht aus meiner eigenen Sicht.
Marco schrie vor Schmerz auf und fiel zu Boden, meine Mutter hatte ihm im Bein getroffen.
„Du Hure!"
Schrie Natalia und kletterte in windeseile eine Leiter hinunter.
Die Situation geriet außer Kontrolle.
Elyas nutzte den Moment der Unachtsamkeit, packte mich und Tim am Arm und befreite uns aus der Umzingelung.
„Was ist mit deinen Eltern?"
Fragte ich nervös, als wir das Gebäude verließen.
„Die machen das schon, glaub mir."
Versicherte er mir und deutete auf ein paar Autos.
Sie hatten tatsächlich noch ein Ass im Ärmel, da viele Leute, die auf unserer Seite waren, sich unter die Gegner mischten.
Wir waren in der Überzahl.
Auf einmal verstummte die Unruhe aus der Halle, dafür wurde ein anderes Geräusch lauter, das in mir die Alarmglocken verrückt machte.
Sirenen, das Geräusch der Routationsblätter von Helikoptern, Eine unverständliche Stimme über ein Megaphon.
„Was ist hier los?"
Panisch starrte ich die Brüder an, die mit unsicheren, ebenso panischen Blicken antworteten.
Natalia kam im Schlepptau von Marco, den sie an der Schulter stützte aus dem Gebäude.
Ihre Freude über den Sieg, verprasste schnell, als sie ebenfalls merkte, was hier los war.
„Und ich dachte, die Anderen wären bloß abgehauen, weil sie dachten, sie würden sowieso verlieren."
Gab sie zu und tat sich schwer nicht zusammenzusacken und striff ihrem Ehemann über die Wange, welcher jeden Moment von uns gehen würde.
„Mom, wir sind geliefert."
Platzte Tim heraus und brach in Tränen aus.
Sie nahm ihn mit ihrer freien Hand in den Arm und kämpfte ebenfalls mit den Tränen.
„Sag sowas nicht."
Presste sie quälend hervor.
Elyas kam auf mich zu und legte mir seine Hände auf die Wangen.
„Was ist hier los, Elyas?"
Fragte ich unter Tränen, in der Hoffnung, es wäre alles nur ein Traum.
„Du musst jetzt ganz stark sein, okay?"
Er wischte mir eine Träne weg und öffnete dann meine Hand mit seiner.
„Vergiss mich nie."
Befahl er.
Ich schüttelte hektisch den Kopf.
Wie könnte ich ihn jemals vergessen.
Er überreichte mir etwas kleines, kaltes, was ich direkt in meiner Hosentasche verschwinden ließ.
„Wenn sie dich befragen wollen, sei so stur, wie du es zu mir auch warst, zeig ihnen, wie fies du sein kannst."
Sagte er, was mir für eine Sekunde zum Lachen brachte.
„Und was passiert mit dir?"
Fragte ich unsicher.
„Mach dir um mich keine Sorgen, ich komm' klar."
Flüsterte er.
Berühmte letzte Worte.
In diesem Moment fuhr der Streifenwagen vor und mehrere Polizisten eines S.W.A.T. Teams überwältigten alle Mitglieder der Familie.
Mir blieben nur noch wenige Sekunden mit ihnen.
„Ich liebe dich, Kenna."
Waren Elyas' letzte Worte an mich, bevor er noch ein letztes mal seine Lippen auf die meinen presste.
Doch lange hielt dieser Moment nicht, denn kurz darauf wurde auch er weggezogen.
Nein.
„Nein!"
Ich konnte das nicht zulassen.
Ich hielt ihn noch so lange fest, wie ich konnte.
Auch ihm kullerte eine einsame Träne über die Wange, während er mich verzweifelt ansah.
Doch er wehrte sich nicht gegen den harten Polizeigriff.
Nun wurde auch ich festgehalten.
Von einer Frau, in Uniform, die mir „Nur helfen wollte".
Ich schrie so laut ich konnte, wehrte mich mit Armen und Beinen doch sie war einfach stärker als ich.

[...]

„Und an mehr erinnere ich mich auch nicht."
Versuchte ich dieser Hilfspsychologin oder was auch immer sie war nun schon zum wiederholten Mal zu erklären, doch sie war sturer als ich.
Seit dem Tag der Festnahme sind zwei Monate vergangen, von denen ich jeden Tag mindestens zwei Stunden auf einem Polizeirevier verbrachte.
Es war wirklich leichter gesagt, als getan, fies und stur zu den Polizisten zu sein, Cops sind wirklich um einiges intelligenter, als man sie sich vorstellt.
Sie glaubten mir meine Story nicht, die da wäre, dass ich nicht von den Dé Luca's entführt wurde, sondern einfach von zuhause abgehauen bin, weil ich Stress mit meinen Eltern hatte.
Ich versuchte, ihnen klar zu machen, dass ich in dieser Fabrik gelebt habe und somit zur falschen Zeit am falschen Ort war.
Menschen wie Kylian, Maya oder Gustavo erwähnte ich gar nicht erst.
Ich wollte es nicht schlimmer machen, als es schon war.
Außer meine Eltern, über die erzählte ich alles. Ab dem Zeitpunkt, in dem meine eigene Mutter mir ein Gewehr an den Kopf gehalten hat, entschied ich, dass sie mir fortan egal sein wird.
Und da ich sowohl volljährig, als auch Zeuge einer geheimen Mafiaaktion war, entschied man, mich durch ein Zeugenschutzprogramm zu führen.
Ich bekam ein neues Aussehen, eine neue Identität und einen neuen Wohnort.

„Es tut mir leid, Miss Steward. Doch sie denken doch nicht wirklich, dass wir ihnen diese von Sinnlücken durchzogene Geschichte glauben werden, oder?"
Entgegnete die Psychologin misstrauisch und lehnte sich nach vorn.
„Sie können glauben, was sie wollen.
Fakt ist, ich bin ihnen keine Rechenschaft schuldig und sobald sich die Presse und die Nachrichten beruhigen, steige ich in den nächstbesten Flieger und wir zwei sehen uns nie wieder."
Damit hatte ich sie wohl schachmatt gesetzt denn sie gab zum ersten mal nach eineinhalb Stunden keine Widerworte und nahm resignierend ein Schluck von ihrem Filterkaffee.
„Damit wäre das wohl geklärt."
Fügte ich abschließend hinzu und verließ mit siegessicheren Lächeln den Raum.

StockholmWo Geschichten leben. Entdecke jetzt