Kapitel 2

68 2 0
                                    

Schritte.
Knirschen.
Rufe.
Diese Geräusche dringen verschwommen an meine Ohren.
Ich kann sie nicht einordnen.
Meine Augen sind geschlossen.
Ich spüre Erschöpfung in mir.
Meine Arme und Beine sind schwer wie Blei.
Mühsam öffne ich das rechte Auge einen Spalt.
Von oben blendet mich etwas sehr Helles und ich schirme meine Augen mit der Hand ab.
„Hey, geht's dir besser?"
Erschrocken schaue ich hoch und erblicke eine Schattengestalt, angestrahlt von einer extrem hellen Lichtquelle.
Angestrengt blinzele ich ein paar Male.
„Du siehst schon deutlich besser aus als gerade, die große Anstrengung war ganz schön viel, was?"
Was für eine Anstrengung?
Wovon redete die mir völlig unbekannte Stimme?
Ich richte mich schwerfällig auf und blicke in dunkelbraune Augen.
„Möchtest Du dich vielleicht doch nochmal hinlegen? Du siehst noch nicht so ganz wach aus."
Benommen schüttele ich den Kopf und nehme sofort einen stechenden Kopfschmerz wahr.
Erschrocken fasse ich mir an die Schläfen.
„Der Stein hat dich ganz schön hart erwischt, was? Der Strandrettungsdienst hat total den Schock gekriegt als du da blutüberströmt ankamst und umgekippt bist. Aber keine Panik, es ist keine allzu schlimme Wunde."
Strandrettungsdienst?!
Ich reiße die Augen auf und schaue wie ein gehetztes Tier um mich.
Mein Herz rast in meiner Brust und mein Gehirn arbeitet auf Hochtouren.
Doch so sehr ich auch in meiner Erinnerung forsche, die kniende Person vor mir ist mir gänzlich unbekannt.
Um mich herum sehe ich unglaubliche Weite.
Und Sand.
Jede Menge Sand.
Ich liege auf einer hölzernen Sonnenliege.
An die große Sandfläche schwappen weiße, schäumende Wellen heran und dahinter erstreckt sich ein klares türkises Meer.
„Was guckst du so verdattert? Stimmt irgendwas mit deinem Gedächtnis nicht?"
Scheinbar stimmt wirklich etwas nicht mit meinen Erinnerungen, denn ich kann mich kein bisschen an den Strand, an das Meer, an die Person links neben mir oder gar daran, wo ich hier bin, erinnern.
Was ist bloß passiert, während ich die Augen geschlossen hatte?
„Komm, wir gehen zurück zur Villa, die anderen machen sich bestimmt schon Sorgen um uns."
Die junge Frau mit den glatten rot-blonden Haaren zieht mich an der Hand hoch und hilft mir auf die Füße.
„Kannst du laufen?", fragt sie und schaut mich schief von der Seite an.
Ich nicke zaghaft und wir gehen Seite an Seite vom Strand weg, eine Straße hinauf.
Unauffällig mustere ich die Frau neben mir von oben bis unten.
Sie trägt luftige, weite Kleidung und hat die Haare im Nacken zu einem lockeren Knoten gebunden.
Erst jetzt fällt mir auf wie unglaublich heiß es ist.
Die Sonne brennt heiß vom Himmel herunter und heizt die Luft auf eine stickige, trockene, drückende Art und Weise auf.
Die Wärme schneidet mir urplötzlich die Luft auf.
An Hitze und Sonne bin ich nicht gewöhnt.
Seit meiner Geburt lebe ich in meinem kleinen Dorf und im Urlaub bin ich sehr selten, zudem meist nur im Herbst oder Winter, wenn es auch in anderen Gebieten kalt ist, denn das ist es, was meine Familie gerne mag.
Meine Eltern sind kaum mit mir weggefahren.
Es mangelte uns an dem nötigen Geld.
Mir hat es nie etwas ausgemacht.
Ich fühle mich wohl in meiner Heimat, wohler als überall anders.
Und als ich nun die ungewohnte Temperatur auf meiner Haut spüre, fällt mir das Atmen schwer.
„Wasn jetzt los?"
Die Frau neben mir bleibt stehen und schaut mich entgeistert an.
„Du röchelst ja wie ein Mops mit zusätzlicher Atemnot!"
Ich versuche meinen Atem zu kontrollieren.
„Du bist irgendwie komplett anders seit du im Meer warst.", murmelt die Blonde und geht ein paar Schritte weiter bis zu einer Glastür, zieht einen Schlüssel aus der Tasche und schließt sie auf.
Wir treten ein und sofort umhüllt mich angenehme kalte Luft.
Ich atme erleichtert ein und schaue mich um.
Alles ist glänzend und sauber.
Die Decke ist hoch und eine breite Treppe führt aus der Empfangshalle in das obere Geschoss.
„Mensch, da seid ihr ja endlich! Wo wart ihr solange?"
Ein Mann im ebenfalls jungen Alter springt in großen Sätzen die Treppe hinunter und kommt mit schnellen Schritten auf uns zu.
„Meine Güte, Scarlet, was hast du denn mit deinem Kopf gemacht? Das Pflaster ist ja riesig!"
Ich lebe jetzt schon 22 Jahre auf dieser Welt und ich habe meinen Namen schon sehr oft gehört.
Von meinen Eltern, von meinen Kollegen im Ziegenstall und von Freunden, aber ich bin mir zu 100 Prozent sicher, dass ich nicht Scarlet heiße!
„Paul, wo hast du dein Gehirn gelassen? Ich habe dich doch vorhin angerufen und dir erzählt, dass Scarlet tauchen war und sich den Kopf an einem Stein angehauen hat."
Während die Frau, die kaum älter sein kann als ich, dies Paul, wie der Mann scheinbar heißt, erklärt, sieht sie mir kurz tief in die Augen und zieht die Brauen hoch, als wolle sie in meinem Gedächtnis nach der Erinnerung suchen, doch da ist nichts.
Ich kann mich an absolut nichts hier erinnern.
„Ich hatte das Telefon weggelegt, weil die Nudeln übergekocht sind.", nuschelt Paul kleinlaut, macht aber dann eine Handbewegung, als wolle er ein Insekt verscheuchen und fügt hinzu: „Kommt mit, Valentin und ich warten schon lange mit dem Essen und haben jetzt echt Hunger!"
Die beiden gehen vor mir die Treppe hinauf und ich stolpere hinterher.
Mein Kopf kocht fast über vor neuen Informationen.
Wir betreten den großen hellen Wohnbereich.
Auf der Kochinsel dampft eine geruchsintensive Soße und der Topf mit Nudel steht bereits auf dem Tisch,
Auf einem der Stühle sitzt Valentin.
Und mein Herz beginnt plötzlich wieder schneller zu schlagen.

𝕾𝖈𝖍𝖓𝖊𝖊𝖘𝖈𝖍𝖎𝖈𝖐𝖘𝖆𝖑Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt