Kapitel 11

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Das schlechte Gewissen hat mich die ganze Nacht wach gehalten.
Kein Auge habe ich zumachen können.
Wie konnte ich nur?
Wie konnte ich es so weit gehen lassen?
Wie hatte ich es zulassen können, dass Valentin mich küsste?
Elena hat tatsächlich gestern unverzüglich ihre Koffer gepackt und ist ausgezogen, ohne sich meine verzweifelten Erklärungsversuche anzuhören.
Hätten Blicke töten können, würden Valentin und ich längst in Särgen vor uns hingammeln.
Ich fühle mich so unglaublich schuldig, für das was geschehen ist.
Trauer und Sorge um Elenas Auszug haben mich keine Minute schlafen lassen.
Deshalb wandele ich jetzt wie ein Zombie vom Kaffeeautomat zum Tisch, stelle die randvolle Tasse ab und schlurfe zurück, um mir noch ein Stück Zucker zu holen.
Ich weiß noch nicht, wie ich mich heute auf die Arbeit konzentrieren soll, denn meine gute Laune ist im Bermudadreieck versunken und bisher bin ich mir sicher, sie nicht innerhalb der nächsten wachen Stunden heraus angeln zu können.
Geplagt von Gewissensbissen trete ich eine Weile später meinen Weg zum Strand an.
Heute bin ich für die erste Schicht in der Bar eingeteilt und werde damit sicherlich wenig zu tun haben.
Valentin muss erst gegen Mittag den Jetbootverleih betreuen, weshalb er wesentlich länger im Bett bleiben kann als ich.
Seufzend öffne ich die Bar und lasse mich auf einen Stuhl sinken.
Mit dem Kopf in die Hände gestützt starre ich deprimiert aufs Wasser und beobachte die Wellen, wie sie ans Land schwappen.
Die Sonne geht langsam auf und ich frage mich, wieso die Strandbar schon so früh eröffnen muss.
Ich empfinde es als unsinnige Zeitverschwendung.

Im Laufe der nächsten drei Stunden erscheinen tatsächlich nur zwei Gäste und diese bleiben auch nur kurz, um ihren Morgenkaffee zu schlürfen und, genau wie ich, aufs Wasser zu starren.
Als mir fast die Augen zufallen, bereite ich mir auch einen Kaffee zu und trinke ihn im Stehen, denn ich befürchte einzuschlafen, sobald ich mich hinsetze.
„Na, wie viele Gäste hattest du schon?"
Die vertraute Stimme lässt mich aufschauen.
Mit einem lässigen Lächeln im Gesicht lehnt Valentin an einem der Sonnenschirme.
Ich habe ihn gar nicht bemerkt...
Wieso ist er denn schon hier?
Er muss erst in anderthalb Stunden am Strand sein.
„Zwei.", antworte ich wahrheitsgemäß und gähne.
Auf seine Frage, wie lange ich geschlafen habe, zucke ich nur mit den Schultern und nehme einen weiteren Schluck Kaffee.
„Hast du Lust mit runter zum Strand zu kommen?", fragt er und kommt auf mich zu.
„Ich muss noch auf meine Ablösung warten. Hab noch zehn Minuten Dienst.", nuschele ich und reibe mir die Augen.
Meine Güte, bin ich müde...
„Ach, es ist doch eh keiner da. Und vom Strand aus hast du doch die Bar im Blick. Da wird sich schon keiner aufregen. Komm, ich sehe, du muss definitiv auf andere Gedanken kommen, Addison."
Valentin nimmt mir die Tasse aus der Hand, stellt sie in die Spüle und legt mir einen Arm um die Schultern.
Unwillig stolpere ich neben ihm her.
„Du hast heute Nacht gar nicht geschlafen, oder?"
Ich nicke frustriert.
„Ach Addison.", murmelt er und zieht mich näher zu sich heran.
Seine Nähe ist tröstlich und ich lege meinen Kopf an seine Brust.
Elena ist nicht mehr da.
Uns steht keiner mehr im Weg.
Als könne Valentin meine Gedanken lesen, spricht er genau dies aus.
Ich muss ein bisschen lächeln.
Der Gedanke löst ein beginnendes Kribbeln in meinem Bauch aus.
Ich atme Valentins Parfüm ein und seufze zufrieden.
Die Zukunft könnte so schön sein, wenn ich nicht von so bedrückenden Skrupeln gequält würde.
„Komm, lass uns dir mal wieder ein Lächeln ins Gesicht zaubern. Hast du Lust auf eine Runde Jetbootfahren?", fragt er und seine Augen blitzen beim Gedanken daran.
Ich zucke wieder mit den Schultern, also zieht Valentin mich mit sich zu einem Steg, an dem bereits ein anderer Mann auf ihn wartet.
Sie klatschen sich ab und Valentin angelt sich einen Schlüssel aus einem Korb und begutachtet das Etikett.
„Nummer 5. Glücksgriff!", meint er und klatscht seinen Kollegen erneut ab.
Er zieht mich weiter bis zum Ende des Stegs und bleibt dann vor einem knallgelben Jetboot stehen.
Er grinst bis über beide Ohren.
„Lust auf nh Spritztour?"
Unsicher werfe ich einen Blick hoch zur Strandbar.
Zum Glück steht dort schon meine Kollegin an der Bar und spült meine Kaffeetasse aus.
„Meinetwegen.", murmele ich gleichgültig.
Valentin besteigt das Boot und reicht mir dann seine Hand.
Ich lasse mich hinter ihm auf den Sitz sinken und halte mich an seiner Taille fest.
„Bereit?", fragt Valentin mich und in seiner Stimme klingt die Vorfreude.
Ich nicke.
„Halt dich gut fest!", warnt er mich noch und dann geht es auch schon los.
Das Wasser spritzt links und rechts in die Höhe.
Der Fahrtwind bläst meine Haare kräftig zurück.
Meine schlechtes Gewissen ist am Steg zurückgeblieben.
Ein Jauchzen entfährt mir und ich kann endlich die gute Laune aus dem Bermudadreieck retten.
Valentin lacht und gibt nochmal richtig Gas.
Der Adrenalinkick überkommt mich und ich genieße ihn mit geschlossenen Augen.
So könnte es ewig sein.
Dieser Moment ist einfach perfekt.

Ich öffne meine Augen erst wieder, als ich bemerke, dass Valentin die Geschwindigkeit drosselt.
Wir sind weit draußen auf dem Meer.
Der Strand ist nicht mehr zu sehen.
Das Jetboot kommt langsam zum Stehen und Valentin erhebt sich.
„Was machst du?", frage ich verständnislos.
Er dreht sich zu mir um, sodass er mir tief in die Augen sehen kann.
Wie immer, wenn er mich so ansieht, beginnt mein Herz zu flattern.
„Weißt du eigentlich, wie wunderschön deine Augen sind?", flüstert er und streicht mir eine Strähne aus dem Gesicht.
Schade, dass es nicht meine eigenen Augen sind, sondern Scarlets...
„In echt sind meine Augen olivgrün.", flüstere ich enttäuscht, „Aber Scarlets Türkis ist schon toll."
„Ich bin nicht in dein Aussehen verliebt und auch nicht in deine Stimme."
In Gedanken korrigiere ich betreten werdenScarlets Aussehen und Scarlets Stimme.
„Ich bin verliebt in dich, Addison. In deine Art und dein Tun."
Mit diesen Worten beugt Valentin sich vor.
Mein Puls beschleunigt.
Dann treffen seine Lippen auf meine.
Glückshormone durchströmen meinen Körper und mir wird ganz schwindelig.
Doch als Valentin seine Lippen löst, bleibt das Schwindelgefühl bestehen.
Dieser Kuss war so schön, doch mir geht es plötzlich total elend.
Am Rande meines Blickfeldes beginnt es zu knistern und schwarze Pixel beschränken meine Sicht.
„Addison, ist alles gut?"
Valentins besorgte Stimme hallt dumpf an mein Ohr.
Ich fasse mir an die Schläfen und versuche gegen den Schwindel anzukämpfen.
Doch mein Blickfeld verkleinert sich immer weiter.
Ich beginne zu schwitzen, gleichzeitig ist mir aber eiskalt.
Werde ich etwa ohnmächtig?
Übelkeit steigt in mir auf.
Eine warme Hand berührt mich und ich schaue zu Valentin auf.
Durch die Bewegung pocht es in meinem Kopf.
Es ist kaum zu ertragen.
Ich strecke beide Arme bis zu den Handgelenken ins Wasser, um meinen Puls zu beruhigen, doch es ist warm.
Plötzlich wird alles um mich herum schwarz und ich bemerke nur noch, wie ich zur Seite sacke und das Wasser über mir zusammenschlägt.

𝕾𝖈𝖍𝖓𝖊𝖊𝖘𝖈𝖍𝖎𝖈𝖐𝖘𝖆𝖑Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt