Kapitel 15

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Wie ist es eigentlich möglich, dass eine einzige Person einem so auf den Geist gehen kann?!
Wieso hat man das Gefühl ihm oder ihr das nächste Buch um die Ohren hauen zu wollen oder zu schreien, obwohl die Person gar nichts tut außer atmen, sich zu bewegen und ein paar Worte zu sagen?
„Kann nicht mal jemand anderes zu mir kommen außer dir? Es gibt doch bestimmt noch andere Pfleger in diesem Haus, die mir mein Essen bringen können. Von deinen Wurstfingern serviert schmeckt es eh nicht mehr.", ätze ich unerbittlich und schieße bei jeder sich bietenden Gelegenheit mit meinem Blick Pfeile in Nikolas breiten Rücken.
Nikola.
Ja, der Name passt zu dieser immer charmanten und humorvollen Gestalt, die mir derartig die Laune vermiesen kann.
Ich kann gar nicht sagen, wie er das macht und wieso ich dem so empfinde, aber jede Minute mit ihm ist eine Qual für mich.
Doch heute ist Nikola tatsächlich anders als in den letzten Wochen.
Er stellt das Tablett mit dem faden Krankenhausgericht klirrend und mit Nachdruck auf meinem Schränkchen ab und schaut mich zornig an.
„Ich weiß wirklich nicht, was du für ein Problem mit mir hast.", brüllt er los und ich zucke merklich zusammen, als seine Stimme von den Wänden widerhallt.
„Ich reiße mir jeden Tag hier für dich den verdammten Arsch auf, bin nett zu dir, obwohl du so ätzend und giftig zu mir bist und versuche dir mal ein kleines Lächeln ins Gesicht zu bringen, doch dir ist es einfach nicht rechtzumachen! Jetzt mache ich es dir recht. Ich gebe deine Pflege ab. Soll doch jemand anderes deine Wutanfälle und deine schlechte Laune abkriegen, ich will das nicht mehr! Ich habe echt gedacht, dass wir Freunde werden können."
Seine grauen Augen blitzen und eine tiefe Zornesfalte steht auf seiner Stirn.
„Vergammel doch in deiner Depressivität!", blafft er und knallt die Tür laut hinter sich zu.
Ich starre ihm nach.
Was erlaubt sich dieser Idiot so mit mir zu sprechen?!
Ich schnaube empört und nehme das Salatschälchen vom Tablett.
Meine ersten Bisse sind hart und meine Zähne knallen aufeinander.
Doch schließlich kaue ich langsam.
Nikola hat recht.
Ich höre auf zu kauen und lasse die Gabel sinken.
Er hat mit allen seinen Anschuldigungen recht.
Ich war richtig ekelig zu ihm.
Angewidert von mir selber stelle ich das Schälchen zurück.
Mir ist der Appetit vergangen.
Ich habe ihn wirklich verletzt mit meiner Art.
Doch alles an ihm lässt meinen Zorn hochbrodeln.
Also ist es gut, dass er jetzt weg ist, sage ich mir selber und nehme meine Kopfhörer vom Nachtschränkchen.
Die Musik beruhigt mich und ich verliere mich im Takt und Klang meines Lieblingsliedes.

„Ich habe wirklich nicht den ganzen Tag Zeit. Und wenn du dich da jetzt nicht freiwillig reinsetzt, werde ich dich wohl oder übel mit Gewalt rein zwingen müssen."
Genervt wippt die alte Frau mit dem Fuß und schaut immer wieder auf ihre Armbanduhr.
Ich weiß genau, dass sie das nicht tun würde.
Denn das dürfte sie gar nicht.
Aber ich werde mich um nichts in der Welt in diesen Rollstuhl setzen und meinem Stolz nachgeben.
Lieber bleibe ich hier in meinem harten Bett.
Das teile ich der Pflegerin auch mit, doch sie bleibt hartnäckig neben meinem Bett stehen.
Sie riecht nach Zigarettenqualm und Schweiß und diese Mischung dreht mir fast den Magen um.
Ich behalte meine Sturheit bei, atme nur durch den Mund und verschränke trotzig die Arme vor der Brust.
„Eins."
Die alte Frau rückt mir noch näher und selbst das Atmen durch den Mund wird unerträglich.
„Zwei.", zählt sie drohend weiter und beugt sich zu mir runter.
Und ihr Mundgeruch lässt die Übelkeit in mir aufsteigen.
„Gut gut gut.", japse ich, „Ich setze mich rein. Aber nicht lange."
Zufrieden rückt die Pflegerin von mir ab.
Sie weiß scheinbar genau mit ihren ekelhaften Mitteln umzugehen.
Mit ihrer Hilfe, die ich am liebsten nicht beansprucht hätte, schaffe ich es schließlich in den Rollstuhl.
Ich fühle mich extrem unwohl in meiner Haut.
Was sollen denn die anderen Leute denken?
Dass ich zu faul bin zu laufen?
Ich spüre die Blicke, die mir zugeworfen werden.
Die meisten aus meiner Höhe.
Aus Augen von Personen, die ebenfalls im Rollstuhl sitzen.
Ich frage mich insgeheim, was ihnen wohl passiert sein mag.
Das Unbehagen löst sich weiter auf, als wir in dem Therapieraum ankommen und ich die vielen Frauen und Männer sehe, die hier ihre Muskulatur neu aufbauen oder stärken sollen.
Ich sehe Erwachsene und auch Kinder, die konzentriert Bälle hin und her werfen, Gegenstände anheben oder an Stangen das Laufen üben.
Alle diese Personen haben eine Verletzung oder ein Schicksal erlitten, das Funktionen ihres Körpers eingeschränkt hat.
Genau wie ich.
Und ich begreife, was anders ist an ihnen als an mir.
Sie haben ihren Lebensmut.
Sie wollen wieder auf die Beine kommen und ihr Leben so gut wie möglich weiterführen.
Das ist ihr Ansporn.
Sie trainieren hier, um den Alltag eigenständig wieder in die Hand nehmen zu können.
Tränen steigen mir in die Augen.
Nein, keine von diesen Personen in diesem Raum hat das Schicksal erlitten, dass der Sturz von dem Felsen für mich mit sich gebracht hat.
Ich bin alleine damit.
Sie können früher oder später wieder laufen, springen und rennen.
Ich werde es nicht können.
Das ist mir klar.
Lustlos schaue ich rüber zu dem Grüppchen an Trainern und Pflegern, die das Vorgehen im Raum betreuen.
Hätte er sich nicht aus der Menge gelöst und wäre wütend davon gestapft, hätte ich Nikola wahrscheinlich gar nicht bemerkt.
Ein Stich fährt mir ins Herz.
Dass er, weil ich reinkomme, den Raum verlässt, ist nicht richtig.
Wenn dieses Training vorbei ist, werde ich mich bei ihm entschuldigen müssen.
Und dafür werde ich meinen Stolz mächtig niederkämpfen müssen.
Ob ich will oder nicht.

𝕾𝖈𝖍𝖓𝖊𝖊𝖘𝖈𝖍𝖎𝖈𝖐𝖘𝖆𝖑Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt