Kapitel 20

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Ein lauter brummender Ton reißt mich aus dem Schlaf und ich sitze sofort senkrecht im Bett.
Einbrecher?
Diebe?
Was ist das?!
Ich will die Beine über die Bettkante schlagen und aufstehen, doch nur mein Oberkörper folgt dieser Bewegung und ich krache auf den harten Holzboden.
Fluchend richte ich mich auf und ziehe den Rollstuhl zu mir heran.
Schon wieder habe ich nicht daran gedacht, nicht laufen zu können.
Die Eigenständigkeit fehlt mir immens.
Ich stelle die Bremsen fest und ziehe mich am Rollstuhl hoch, doch er kippt zu mir um und begräbt mich unter sich.
Meine Zimmertür wird aufgerissen und Mom streckt den Kopf durch die Tür.
Sie knipst das Deckenlicht an und kann sich ein Glucksen nicht verkneifen.
Ich muss aber auch wirklich ein merkwürdiges Bild darstellen.
Dennoch bin ich schon wieder sauer auf sie.
Wieso hilft sie mir denn nicht?!
Mom steht nur in der Tür, die Arme verschränkt und schaut mich abwartend an.
„Was?!", keife ich sie an und schiebe mühselig den Rollstuhl von mir herunter.
„Du könntest auch einfach nach Hilfe fragen, Addison.", gluckst sie.
Ich halte inne und blinzele.
Da hat sie recht...
Ich lasse die Schultern sinken.
Da bin ich gerade mal ein paar Minuten wach und schon hat mich der Trotz und Stolz überholt.
Mal wieder.
Unwillig beiße ich auf meiner Unterlippe herum.
„Kannsu mür hölfn?", nuschele ich und schaue auf den Boden.
„Bitte?", fragt Mom nach und hält die Hand hinters Ohr.
Trotzig schlage ich mit der flachen Hand auf den Boden.
Ich will nicht fragen!
Ich will mein Leben wieder alleine führen können!
Aber ich habe gerade keine andere Wahl.
Und das behagt mir überhaupt nicht.
„Hm?"
Ich rolle mit den Augen und frage laut und deutlich: „Kannst du mir bitte aufhelfen?"
Mit einem zufriedenen Ausdruck auf den Lippen kommt Mom auf mich zu, greift mir unter die Arme und hilft mir zurück aufs Bett, von wo aus ich mich in meinen Rollstuhl hieven kann.
„Klar kann ich das. Ich wollte nur, dass du fragst."
Genervt verdrehe ich erneut die Augen und suche mir Kleidung aus dem Kleiderschrank heraus.
Dann ziehe ich mich im Bad um und mache mich frisch, um anschließend in der Küche Frühstück zuzubereiten.
Doch als ich dort ankomme, gießt Mom gerade dampfendes Wasser aus dem Wasserkocher in eine Kaffeekanne.
Mein Blick wandert hinüber zum Esstisch und mir bleibt der Mund offen stehen.
Der Tisch ist herrlich gedeckt und ein paar grüne Sträucher stehen in einer Vase in der Mitte des Tisches.
Leise fröhliche Musik kommt aus einer kleinen Musikbox, die auf einem der Wandschränke steht.
Mom legt mir eine Hand auf die Schulter und ich schaue zu ihr hoch.
Sie lächelt zu mir hinunter.
Was ist passiert, dass sie plötzlich so nett und hilfsbereit ist?
„Danke.", sage ich aufrichtig.
Es freut mich wirklich, dass sie Frühstück für mich gemacht hat.
„Ich möchte mich für das entschuldigen, was dein Vater und ich getan haben."
Mom lässt sich auf einen Stuhl sinken und ich rolle zu ihr.
Sie schaut mich an und lächelt traurig.
„Es tut mir ehrlich leid. Es war nicht richtig von uns, dich hier zurückzulassen, ganz alleine."
Ich schaue ihr in die Augen.
Sie sagt wirklich die Wahrheit.
„Ich möchte dir bitte erklären, was es damals mit dem Umzug auf sich hatte. Nach dem Frühstück. Und nicht hier."
Ich nicke.
Nichts möchte ich lieber, als zu verstehen.
Dad kommt aus dem Gästezimmer.
Ich sehe gerade noch, wie der mürrische Ausdruck einem künstlichen Lächeln weicht, dann begrüßt er uns mit einem lauten Guten Morgen.

Gespannt rolle ich neben meiner Mutter her.
Es ist ein merkwürdiges Gefühl, sie so nah bei mir zu haben, wo wir uns so lange Zeit nicht Angesicht zu Angesicht gesehen haben.
Im Internet habe ich Fotos von ihr und Dad gesehen, glücklich in die Kamera lächelnd, im Hintergrund Sehenswürdigkeiten wie der Chichén Itzá oder den Wasserfällen von Agua Azul & Mizol-Ha.
Damals war ich so wütend gewesen, denn eine Person fehlte auf dem Foto.
Ich.
Mit der Zeit schaute ich mir die Blogfotos meiner Eltern nicht mehr an, denn das einzige Gefühl, das ich kannte, war Wut.
Ich warte ungeduldig darauf, das meine Mutter das Gespräch beginnt, doch sie schweigt, den Blick in die Ferne gerichtet.
Sie steuert zielstrebig auf einen Ort zu, der mir gar nicht beliebt.
Ich folge ihr von Zeit zu Zeit unwilliger.
„Ähm, Mom, können wir woanders hingehen?", frage ich zögernd und höre auf, die Räder meines Rollstuhls zu bewegen.
„Nein. Ich will dich zu einem Ort bringen, der mir damals viel bedeutet hat.", erwidert sie und stapft durch den Schnee, direkt auf den Waldeingang zu.
Ein Kloß bildet sich in meinem Hals.
Bin ich schon stark genug?
Kann ich den Felsen meines Schicksals schon wieder ansehen?
Gestern war ich es noch nicht.
„Ich kann dich auch schieben, wenn du möchtest."
Mom dreht sich zu mir um und nimmt die Griffe meines Rollstuhls in beide Hände.
Dann schiebt sie mich vorwärts, die kleine Steigung hinauf.
Hinter der nächsten Ecke blitzt der schneebedeckte Felsen auf.
Ich schließe die Augen.
Eine Träne rinnt meine Wange hinunter.
„Da sind wir.", verkündet Mom.
Ich schluchze auf.
Erschrocken hält sie an und streicht mir sanft über die Wange.
„Hey, hey hey, was ist denn los? Tut dir was weh?", fragt sie besorgt.
„Ja, die Erinnerung!", wimmere ich und schaue zu ihr hinauf.
Doch scheinbar ist sie nicht im Klaren darüber, dass genau hier das Ereignis geschah.
Mit zitternden Stimme erkläre ich es ihr und sie schaut mich erschrocken an.
„Hier?", fragt sie entsetzt und schaut über ihre Schulter zum dem Felsen mit der kleine Höhle.
Ich nicke und kneife die Augen zusammen.
„Woher wusstest du denn von diesem Platz? Ich war hier früher immer, bevor ich deinen Vater kennenlernte. In der Höhle habe ich meine Nachmittage mit Lesen verbracht, wenn mir alles um mich herum zu viel wurde."
Genau wie ich...
Ich reiße mich zusammen und rolle ein Stück näher an die Höhle heran.
Ob meine Kerze wohl noch da ist?
Von der Neugierde gepackt greife ich um die Ecke in die kleine Nische.
Tastend fahren meine Finger über den kalten Stein, doch meine Kerze ist nicht da.
Ich hole mein Handy aus der Jackentasche und schalte die Taschenlampe an.
Der Schein erleuchtet die leergeräumte Höhle.
Keine Decken.
Von meinem Lager ist nichts mehr zu sehen.

𝕾𝖈𝖍𝖓𝖊𝖊𝖘𝖈𝖍𝖎𝖈𝖐𝖘𝖆𝖑Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt