Kapitel 18

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Als ich endlich wieder am Torbogen ankomme, sind meine Arme lahm und ich keuche wie nach einem Marathonlauf.
Erschöpft schließe ich die Haustür auf und kämpfe mich ins Haus.
Mit letzter Armkraft ziehe ich meine Jacke aus, räume die Einkäufe weg und hebe mich aus dem Rollstuhl aufs Sofa.
Ich habe zwar spezielle Winterreifen aufgezogen bekommen, die mir das Rollen auf vereisten Straßen erleichtern, doch gegen enorme Steigungen können sie auch nicht viele ausrichten.
Ich kann nur von Glück reden, dass auch der Gehweg mit Streusalz bestreut wurde...
Ich kuschele mich in eine Decke ein.
Ein paar Minuten Schlaf muss ich mir jetzt einfach gönnen.

Als ich wieder aufwache, ist es draußen bereits dunkel.
Da habe ich wohl doch länger geschlafen...
Mein Magen knurrt.
Da fällt mir ein, dass ich das Öl vergessen habe...
Ich hebe mich zurück in den Rollstuhl und schaue in der Kühltruhe nach, ob es noch etwas gibt, das ich mir im Backofen oder in der Pfanne warm machen kann.
Plötzlich schrillt die Haustürklingel.
Wer mag um diese Uhrzeit noch draußen rumwandern?
Und vor allem: wer möchte um diese Uhrzeit noch zu mir?
Ich rolle zur Haustür, öffne sie einen Spalt und schlage sie sogleich wieder zu.
Flora kommt maunzend aus dem Wohnzimmer und springt auf meinen Schoß.
Sie starrt die Tür an.
Schlimm genug, dass sie von ihnen in der Zeit, wo ich nicht da war, verpflegt wurde.
Sie mag sie natürlich.
Ein lautes Klopfen ertönt und die Klingel schrillt weitere drei Male.
Flora springt runter und kratzt an der Tür.
Seufzend öffne ich erneut und schaue meine Eltern mit verbittertem Blick an.
„Was wollt ihr?"
Mir behagt es überhaupt nicht, dass Flora meiner Mutter sogleich schnurrend um die Beine streicht.
„Ach Addi, es ist so schön dich wiederzusehen.", ruft Mom und gibt mir einen Kuss auf die Wange.
Angewidert wische ich mir mit dem Ärmel die nasse Stelle weg.
„Was wollt ihr?", wiederhole ich genervt.
Der Abend hätte so schön werden können...
„Wir mussten heute unsere Ferienwohnung verlassen und der Flug geht doch erst morgen Mittag.", erklärt Dad.
„Da dachten wir, dass wir genauso gut hier übernachten können. Dein Gästezimmer ist wirklich schön eingerichtet."
Beim Gedanken daran, dass meine Eltern jeden Tag durch meinen Bungalow spaziert sind und wohlmöglich alles auf den Kopf gestellt haben, wird mir übel.
Ehe ich mich versehe, stehen sie auch schon in meiner Küche.
Ich nehme Flora schnell auf den Arm und bleibe an der Tür stehen.
Sie sollen bloß nicht denken, dass ich sie gerne in meinem Haus haben möchte.
Dad setzt sich auf mein Sofa und die Federn geben bedenkliche Töne von sich.
Mom öffnet den Kühlschrank.
„Hast du denn gar nichts Vernünftiges zu essen da?", fragt sie.
„Doch.", gebe ich zurück und versuche ruhig zu bleiben.
Sie schlägt die Kühlschranktür zu und öffnet einen der Wandschränke.
„Du findest bei mir kein Fast Food.", erkläre ich, denn bei mir findet sich tatsächlich grundsätzlich Gesundes.
Seit ich meinen Vater vor 5 Jahren mit über 100 Kilogramm zu viel auf den Rippen ausziehen sehen habe, habe ich meinen Ernährungsstil zu genau dem Gegenteil von fettigen Budengerichten geändert.
Er scheinbar nicht.
Mom gibt die Suche nach Essbarem auf und gesellt sich zu meinem Vater.
Die beiden auf meiner Couch zu sehen lässt die Aggressionen, die ich bisher erfolgreich im Krankenhaus in den vielen Therapiestunden gelassen habe, wieder aufkochen.
Meine Eltern und ich sind so verschieden, dass man sich wirklich fragen könnte, ob ich wirklich von ihnen abstamme.
Dad nimmt die Fernbedienung für den Fernseher in die Hand und ich halte mich nicht zurück.
„Pass auf, sonst machst du sie kaputt.", tadele ich, denn die kleine Fernbedienung in seiner Pranke zu sehen, behagt mir ebenfalls nicht.
Ich rolle zur Garderobe.
Ich muss dringend frische Luft schnappen, denn die Atmosphäre in diesem Haus ist zum Platzen angespannt.
Ich nehme meine Jacke vom Haken und ziehe sie über.
Flora springt von meinem Arm und die Verräterin gesellt sich zu meinen Eltern auf Sofa.
Enttäuscht von dem Verhalten meiner besten Freundin schlage ich die Haustür mit Nachdruck hinter mir zu.
Natürlich ohne an einem Schlüssel zu denken...
Aber darüber werde ich mir später Sorgen machen müssen.
Wo meine Eltern eh schon seit Monaten in meinem Haus rumgeistern, wird die nächste Stunde nun auch nichts mehr ausmachen.
Ich halte es bei ihnen nicht aus.
Die Straßenlaternen erleuchten mir den Weg.
Ohne darüber nachzudenken gelange ich an den Waldrand.
Ich halte an.
Nein.
Zu dieser unheilvollen Stelle möchte ich nicht zurückkehren.
Nicht heute Nacht.
Ich schaue hoch zu den Sternen.
Der Mond steht groß und rund am Himmel und ich fühle mich sofort an die Nächte auf Hawaii erinnert.
Hawaii...
Immer noch komme ich nicht über meine Traumwelt hinweg.
Plötzlich wird mir das Alleinsein hier vor dem Wald, so nah bei dir Stelle, die mir dieses Leben beschert hat, unbehaglich.
Die Lustlosigkeit, die ich nach dem Aufwachen im Krankenhaus empfunden habe, steigt wieder in mir auf.
Wie sehr ich mich doch gefreut hatte, als ich Valentin im Traum hatte wiedersehen können.
Meine Gedanken schweifen rüber zu Nikola.
Wie kann es bloß zu Stande kommen, dass er sich so verändert hat, so hin zu meiner Vorstellung von dem WG-Mitglied von Hawaii?
Ich muss zugeben, dass mir Nikola inzwischen keinesfalls egal ist.
Ich mag ihn tatsächlich auf irgendeine Art und Weise.
Wahrscheinlich, weil er anfangs so war wie Valentin und jetzt auch so aussieht wie er...
Und es tut mir wirklich leid, dass ich so war wie ich war.
Doch nun hat er sich so massiv verändert.
Hin zum arroganten Schnösel.
Er ging mir im Café mit seinem hochnäsigen Getue mächtig auf die Nerven.
Meine aufsteigende Neugierde für diesen Wandel kann ich allerdings nicht verbergen.
Ich stecke nachdenklich meine Hände in die Jackentaschen.
Wie kann ich es hinbekommen, Nikola wiederzusehen und den Grund zu erfahren, ohne ihn nach einem Treffen direkt zu fragen?
Denn mein Stolz ist zurückgekehrt.
Ich bin wieder ich.
Und ich werde garantiert nicht als erstes nachgeben!
Nikola sagte wir sind quitt.
Damit hat er auch recht.
Die Frage aller Fragen ist allerdings, ob es nur mir so geht.
Fühle nur ich mich auf eigenartige Weise zu ihm hingezogen?
Wieso eigentlich?!
Bei Gelegenheit muss ich mich unbedingt mit mir selber aussprechen...
Ich erinnere mich an Nikolas Worte im Krankenhaus.
Als er mir erklärte, dass er für meinen Launen nicht mehr herhalten will.
Als er sagte...
...dass wir Freunde hätten werden können.
Selbst wenn es nur dazu käme, dass er meine Entschuldigung annehmen würde und das Ergebnis wäre, dass er in Zukunft nicht mehr so überheblich tut, würde es sich in einer Hinsicht schon lohnen.
Da tasten meine Finger in meiner Jackentasche nach etwas flachem Eckigen.
Ich ziehe den Gegenstand hervor und betrachte ihn.
Als ich erkenne, was es ist, kommt mir die Idee.
Und ich muss lächeln.
Bingo!

𝕾𝖈𝖍𝖓𝖊𝖊𝖘𝖈𝖍𝖎𝖈𝖐𝖘𝖆𝖑Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt