Kapitel 29

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Mit zusammengekniffenen Augen umklammere ich die Armlehnen, als das Flugzeug zum Landeanflug ansetzt.
Es ruckelt und töst fürchterlich und mein Magen verknotet sich vor Panik.
Mein erster Flug war definitiv nicht so verlaufen, wie ich es mir gewünscht hätte.
Hätte ich gewusst, dass mein Magen die Höhenverhältnisse und Flugumstände nicht verträgt, hätte ich sicherlich einen anderen Weg gewählt, um mein Ziel zu erreichen.
Doch so hatte ich mich fünf Mal übergeben müssen und die Passagiere neben mir hatten reißaus genommen.
Die Hopser, die die Maschine nun vollführt, bevor sie hart auf der Landebahn aufsetzt, lassen meinen Magen erneut rebellieren, doch zum Glück beruhigt er sich wieder, als mein Gleichgewichtsorgan versteht, dass wir nicht mehr in der Luft schweben.
Erleichtert atme ich aus und lege die Tüte zur Seite, zu der ich vorsichtshalber gegriffen hatte.
Bald darauf kommt das Flugzeug zum Stehen und es wird eine abschließende Durchsage gemacht, bevor eine junge Stewardess die Tür öffnet und die ersten Passagiere aus dem Flugzeug strömen.
Ein Steward hilft mir von meinem Platz in den Rollstuhl.
Ich nicke ihm und der an der Tür stehenden Stewardess zum Abschied einmal zu, dann verlasse ich das Luftgefährt, in das ich definitiv nie wieder einsteigen werde.
Sofort schlägt mir warme Luft entgegen und ich ziehe schnell meinen dicken Daunenmantel wieder aus.
Ich hätte mir natürlich denken können, dass ich hier eine solche Jacke nicht brauchen würde.
Ich beschließe, mir auf den Toiletten etwas anderes anzuziehen.
Ich rolle durch die große Halle, direkt auf das Schild mit den beiden Piktogrammen zu.
Rasch wechsele ich meine Kleidung und verlasse dann auf dem schnellsten Weg den Flughafen.
Draußen rufe ich mir erneut ein Taxi und gebe dem Fahrer meine gewünschte Adresse.
Als ich schließlich auf der Rückbank sitze, geht mir alles plötzlich viel zu schnell.
Das Taxi rast auf den Straßen mit 180 Kilometer pro Stunde, die Zeiger meiner Armbanduhr rotieren im Sekundentakt und meine Ader am Handgelenk pulsiert rapide.
Doch bevor ich überhaupt noch ein Veto einlegen kann, hält der Fahrer an und nennt mir den Preis.
Ich schaue aus dem Fenster.
Er hat Recht.
Wir sind bereits da.
Ich zahle und sitze kurz darauf in meinem Rollstuhl vor genau dem Ort, an dem ich es beenden will.
Dem Parkplatz vor der Küste von Étretat
Ein Ort wie aus dem Bilderbuch.
Der Himmel glänzt in strahlendem Blau und der steinerne Strand erstreckt sich idyllisch nach links und rechts
Ich atme tief durch.
Der Tag ist viel zu schön.
Doch nun bin ich hier.
Nun ist es zu spät.
Ich begebe mich auf den Wanderweg hoch zu den Klippen.
Doch schon nach wenigen Metern stehe ich vor einem für mich unüberwindbaren Hindernis: Treppen.
Daran, dass solch ein bizarres Alltagselement mir zur Last fallen würde, hatte ich nicht gedacht.
Vor lauter Frust beginne ich zu weinen.
„Kannst du mir verraten, was das werden soll? Was hast du hier vor?"
Erschrocken drehe ich den Kopf.
„Du?", schniefe ich, „Hier?"
Währenddessen springt mein Herz Saltos in meiner Brust.
„Das Gleiche könnte ich dich jetzt auch fragen."
Es ist so unglaublich, dass er hier neben mir steht, dass ich erst einmal nicht weiß, was ich erwidern soll.
Denn die Erinnerung an Valentin und meinen Traum keimt wieder in mir auf.
Nikola ersetzt ihn so perfekt in diesem Moment, dass ich fast glaube, wieder zu träumen
„Also? Was hast du hier vor?", fragt Nikola ungeduldig.
Ich drehe meinen Rollstuhl und blicke ihm direkt in die Augen.
„Ich möchte nur den Ausblick genießen. Es soll sehr schön sein da oben. Hab doch gesagt, dass ich Urlaub machen will.", meine ich.
„Und wie möchtest du die Treppen hochkommen?", fragt Nikola leicht spöttisch.
Ich blicke zu Boden.
„Genau das ist der Knackpunkt...", murmele ich kleinlaut.
„Du möchtest also die Aussicht genießen?", hakt er nach und ich nicke rasch.
„Na dann.", meint er und schiebt mich und meinen Rollstuhl an den Straßenrand.
Mit gekonnten Griffen stellt er die Bremsen fest und ehe ich mich versehe hat er mich auch schon hochgehoben.
„Du willst mich echt den ganzen Weg hochtragen?", frage ich fassungslos, doch insgeheim bin ich glücklich über diese Wendung der Ereignisse.
Nikola beginnt wortlos und mit starken festen Schritten den Aufstieg.
Ein unangenehmes Schweigen beginnt.
Ich beobachte scheinbar interessiert die Umgebung, doch in Wirklichkeit grübele ich vor mir hin.
Was bitteschön macht Nikola hier auf Hawaii?
Zur gleichen Zeit und am gleichen Ort wie ich?
„Bist du mir gefolgt?", frage ich nach einiger Zeit mit ruhiger Stimme, obwohl ich innerlich koche.
Womöglich war er auch noch im gleichen Flugzeug wie ich...
Nikola gibt keine Antwort.
Stattdessen blickt er weiter geradeaus.
Geradeaus zum Horizont, an dem endlich das Wasser zu erkennen ist.
Quelltext

𝕾𝖈𝖍𝖓𝖊𝖊𝖘𝖈𝖍𝖎𝖈𝖐𝖘𝖆𝖑Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt