Kapitel 9

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Die Fahrradlampe erleuchtet den Boden vor mir.
Ich keuche und japse.
Valentin fährt weit vor mir und ich komme nicht hinterher.
Ich betrachte kurz die Umgebung um mich herum.
Dunkelheit.
Keine Straßenlaternen.
Ich sehe fast nichts.
Seufzend trete ich nochmal fest in die Pedale und schaue nach vorne.
Mir stockt der Atem.
Valentins Rücklicht ist verschwunden.
Vor mir Dunkelheit.
Neben mir Dunkelheit.
Hinter mir Dunkelheit.
Ich bin vollkommen alleine.
Die nächtlichen Geräusche dringen lauter als zuvor an meine Ohren.
Ein kalter Schauer läuft mir den Rücken hinunter und meine Nackenhaare stellen sich auf.
Plötzlich gefällt es mir gar nicht mehr alleine zu sein.
Ich habe mich verändert.
Ich bemühe mich tief und gleichmäßig zu atmen, um die aufkommende Panik kontrollieren zu können.
„Valentin?", rufe ich leise und meine Stimme zittert.
„Hier, folge meiner Stimme.", höre ich ihn rufen.
Ich bremse scharf ab und drehe das Vorderrad mit der Lampe zum Straßenrand, um mehr sehen zu können.
Im Lichtkegel erblicke ich einen kleinen Weg, der von der Straße abführt.
„Hiiiiieeeeerrrrr.", ruft Valentin und ich folge seiner Stimme.
Nach ein paar Pedaltritten kann ich etwas Helles erkennen.
Ein Licht.
Nein, mehrere Lichter!
Ich traue meinen Augen nicht und bremse mein Fahrrad ungläubig ab.
„Was guckst du so verdattert?", fragt Valentin lachend und verschränkt die Arme vor der Brust.
Doch mir fehlen die Worte.
„Das...Das ist....", bringe ich stotternd heraus.
Was sich mir hier bietet, ist einfach unglaublich.
„Gefällt's dir?"
Ich nicke und ein Lächeln erreicht meine Lippen.
Valentin lacht ungläubig auf.
Ich lege den Kopf schief und schaue ihn fragend an.
„Also... Ich.... Ich habe dich hergeführt.... Weil..... Ich dich etwas fragen muss....", stottert er.
Er hat mich zu diesem überirdischen Ort mitgenommen, nur um mir eine Frage zu stellen?!
Er hat die Kerzen angezündet und eine Picknickdecke ausgebreitet, nur um mir eine Frage zu stellen?!
Ich bin enttäuscht.
Wovon, weiß ich selber nicht.
Dieser Ort ist majestätisch.
Ein großer Steinkreis, gefüllt mit Wasser und ein Wasserfall, aus dem kristallklares Wasser sprudelt, haben es nicht verdient als Ort für eine dämliche Frage herhalten zu müssen.
Valentin begreift meinen Ärger und nimmt beschwichtigend meine Hand in seine.
Ich will sie wegziehen, doch er hält sie fest.
„Es tut mir leid, wenn du ein romantisches Date oder sowas erwartet hast. Diese Aufmachung ist Teil eines Experiments.
Und du. Du bist das zu Erforschende."
Ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll.
Was ist das denn für ein Irrsinn?!
Valentin lässt sich auf einen der Steine nieder und schaut auf den Boden.
„Ich wusste, dass du es nicht begreifen würdest."
Bedauern liegt in seiner Stimme und ich bewege mich widerstrebend auf ihn zu.
„Erzähl. Ich höre es mir an.", sage ich und setze mich mit etwas Abstand neben ihn.
„Ich weiß nicht wer oder was du bist. Aber eins weiß ich sicher. Du bist nicht Scarlet!"
Mir bleibt der Mund offen stehen.
Und ich dachte, ich habe mich unauffällig verhalten können...
„Wie das gehen soll, weiß ich nicht, aber ich kenne Scarlet jetzt schon seit einiger Zeit und so wie du ist sie nicht. Sie ist rebellisch, gereizt und unsympathisch. Und du bist anders. Wer bist du?"
Valentin sieht mich durchdringend an.
Ich atme tief durch.
Soll ich das jetzt bestätigen oder weiter mein Geheimspiel spielen?
Doch da spricht mein Mund schon die Worte aus: „Ich bin Addison und komme aus Kanada, ich habe keine Ahnung wie ich in Scarlets Körper gekommen bin, aber ich will nach Hause."
Entsetzt schlage ich die Hand vor den Mund.
„Wusste ich es doch...", murmelt Valentin und bricht in hysterisches Gelächter aus.
Mir wird es unwohl zu Mute.
„Du hast also mit mir experimentiert?", frage ich und gebe meiner Stimme einen herablassenden Unterton.
„Ja.", gibt er zu, „Aber auch nur um herauszufinden, wer du wirklich bist."
Und dann erklärt er mir, dass vor allem der Verführungsversuch dazu beigetragen hat, meine Identität aufzudecken.
Scarlet, so sagt Valentin, sei leicht zu verführen, jedoch im Alltag ein "unausstehliches Biest".
Die ganze Sympathie war also nur Spiel und Experiment...
Als mir das klar wird, bildet sich ein Kloß in meiner Kehle.
Valentin bemerkt meine Stimmungsänderung erst, als er mich kumpelhaft anstößt.
„Hey. Was ist?", fragt er verwirrt.
Ich drehe mich von ihm weg.
Eine Träne rinnt aus meinem Augenwinkel und ich kann sie nicht aufhalten.
„Anna, weinst du?"
„Ich heiße Addison.", brumme ich und stehe auf.
„Okay okay, es tut mir wirklich leid, aber ich verstehe nicht, was ich gemacht habe."
Valentin streicht sich eine Strähne aus dem Gesicht und erhebt sich ebenfalls.
„Natürlich verstehst du das nicht!", schluchze ich und drehe mich ihn wieder zu.
Meine Augen sprühen vor Zorn und Trauer.
„Jetzt reg dich mal nicht so auf. Ich hab doch nur ein bisschen experimentiert.", meint er und dreht mit beide Handflächen kapitulierend zu.
Die Wut brodelt in mir hoch.
Und dann kann ich sie nicht mehr zügeln.
Ich gehe auf Valentin zu und verpasse ihm eine schallende Ohrfeige.
Entsetzt stolpert er ein paar Schritte rückwärts, fällt über einen der Steine und versinkt mit einem lauten Platschen im Wasser.
Die Erkenntnis überrollt mich.
Ich habe gerade jemanden geschlagen.
Bestürzt trete ich an den Steinkreis heran und halte nach Valentin Ausschau.
Plötzlich wird mir eine Wasserfontäne ins Gesicht gespritzt und er taucht lachend auf.
Ein befreiendes Kichern und Glucksen steigt in mir auf.
Ich reiche Valentin die Hand und ziehe ihn aus dem Wasser.
„Tut mir leid.", nuschele ich und schaue ihn von unten herauf an.
„Halb so wild. Ist okay."
Tropfnass steht Valentin vor mir.
Sein Atem kitzelt auf meiner Stirn, so viel größer als ich ist er.
„Frieden?", fragt er.
„Frieden.", erwidere ich.
Und dann drückt Valentin mich leicht an sich.

𝕾𝖈𝖍𝖓𝖊𝖊𝖘𝖈𝖍𝖎𝖈𝖐𝖘𝖆𝖑Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt