Kapitel 30

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Der Anblick verschlägt mir die Sprache.
Die türkisblaue Wasseroberfläche glitzert im Licht der strahlenden Sonne.
Fasziniert von diesem Anblick schweigen Nikola und ich ein paar Minuten.
„Also. Jetzt erzähl. Wieso um alles in der Welt wolltest du dich eine knapp 50 Meter hohe Klippe runterstürzen?", fragt Nikola schließlich.
Ich beiße mir auf die Unterlippe.
„Wollte ich gar nicht. Ich wollte die Aussicht genießen. Und das tue ich jetzt.", meine ich unschuldig und füge hinzu ,„Schön, oder?"
Nikola schnalzt amüsiert mit der Zunge.
„Wers glaubt."
„Was machst du denn hier?", entgegne ich und mache schnell, um den Anschein zu wahren, mit meinem Handy ein paar Fotos von der Umgebung.
Diese Angelegenheit gestaltet sich schwieriger als ich erwartet hatte.
Irgendwie müsste sich Nikola doch abschütteln lassen, oder nicht?
Aber möchte ich das überhaupt wirklich?
Mich 50 Meter die Klippen runterstürzen?
Ich muss zugeben, dass dies zwar ursprünglicher Plan gewesen war, aber er hört sich nun reichlich dämlich an.
50 Meter freier Fall...
Klingt eigentlich nicht sehr verlockend.
Mein Plan ist im Begriff zu scheitern.
„Du wolltest dich umbringen, gibs zu. Das hast du schon vor seit wir uns kennen. Unser erstes Treffen, du erinnerst dich? Und du hast dein Leben bis jetzt immer noch nicht akzeptiert."
„Natürlich akzeptiere ich es nicht!", blaffe ich.
Wie immer, wenn jemand beginnt über mein Dasein im Rollstuhl zu sprechen, brodelt der Zorn in mir auf.
„Verdammt, Nikola, ich hasse mein Leben! Es ist die Hölle so zu sein! Was soll ich denn? Ich bin ein Krüppel. Ich kann nichts. Ich brauche überall Hilfe. Ich kann nicht Mal richtig aufs Klo gehen! Was glaubst du wie das ist? Scheiße! Es ist Scheiße! Absolute-"
Ich will noch ein Scheiße hinzufügen, doch Nikola legt mir seine Hand auf die Schulter.
Er sagt nichts.
Seine Hand liegt schwer und warm auf meinem Schulterblatt.
Zu meiner Verwunderung ist seine Berührung mir, obwohl ich vor Wut fast an die Decke gehe, nicht unangenehm.
Ich bemerke wie die Lava in meinem Inneren sich langsam abkühlt.
Mit einer einzigen Berührung von Nikola.
Faszinierend...
„Besser?", fragt er.
Ich kann nur nicken.
„Addison.", sagt er und ist dann wieder still.
Ich warte.
Eine gefühlte Ewigkeit.
„Weißt du eigentlich, wie toll du bist?"
Verwirrt blinzele ich zu ihm hoch.
„Was?", frage ich, obwohl ich natürlich jedes einzelne Wort verstanden habe.
Doch ich kann nicht glauben welche Worte gerade aus seinem Mund gekommen sind.
„Du bist toll. Du bist eine tolle Frau. Du bist ein toller Mensch.", wiederholt Nikola und stellt sich neben mich, um das Wasser besser begutachten zu können.
Eine Millionen Schmetterling fliegen auf einmal in meinem Bauch durcheinander.
Ich kann nicht damit umgehen, dass er mir hier und jetzt, an einem Tag wo ich mein Leben beenden will, sagt, dass ich toll bin.
Toll, was meint er damit eigentlich?
Als könne er meine Gedanken lesen, erklärt Nikola: „Du hast Charakter. Du bist liebevoll. Du bist zuverlässig. Du hast eine harte Schale, aber dein Kern, der ist weich. Du hast zwar jeden Grund, dich über deinen körperlichen Zustand zu beschweren, aber was möchtest du denn sonst? Du hast eine Familie und Freunde, die dich unterstützen. Du hast ein wunderschönes Haus, du hast eine Katze und musst dir um nichts Sorgen machen, außer, dass du vielleicht mal die Gutherzigkeit und Hilfsbereitschaft anderer Leute annimmst. Also, was willst du noch?"
„Laufen können.", sage ich wie aus der Pistole geschossen.
Dann begreife ich erst, was Nikola mir da gerade gesagt hat.
Und er liegt richtig.
Ich habe wirklich alles...
Mir geht es im Vergleich zu anderen Menschen auf dieser Welt wirklich gut.
Ich habe meine Eltern und meine Bekannten, die mir immer zur Seite stehen.
Ich habe ein Haus über dem Kopf und fließend Wasser.
Ich habe eine Heizung, wenn mir kalt ist und genügend zu Essen.
Würde ich mich nicht so anstellen, anderer Leute Hilfe anzunehmen, wäre mein ganzes Leben kein Problem...
Aber...
„Es wäre einiges einfacher, wenn dieser Unfall damals nicht passiert wäre. Wäre ich nicht diesen blöden Felsen runtergefallen, wäre ich jetzt nicht hier."
„Du solltest froh sein überhaupt zu leben, Addison. Alles andere ist nebensächlich. Der Welt würde etwas fehlen ohne dich. Mir würde etwas fehlen.", meint Nikola und tätschelt mir leicht die Schulter, „Was immer geschieht, es liegt an uns darin Glück oder Unglück zu sehen. Ich sehe darin Glück. Mein persönliches Glück. Denn du bist der Mensch, in den ich mich von ersten Moment an verliebt habe."
Nikola verstummt und lacht ein kleines verwirrtes Lachen.
„Entschuldige, aber ich bin gerade selber überwältigt von meinem Mut.", gesteht er kleinlaut und sieht mich schüchtern von der Seite an.
„Danke.", sage ich und schaue Nikola tief in die Augen, „Danke für all das, was du gerade gesagt hast."
Er schaut mich weiterhin fragend an.
Er möchte eine Antwort auf die indirekte Frage, die er gestellt hat, das weiß ich.
Und ich sitze einfach da und weiß nicht was ich sagen soll...
Ich möchte keine schnöde Filmromancenantwort geben, doch genauso wenig kann ich meine eigenen Gefühle in Worte fassen.
Nikolas Mundwinkel sinken langsam und ich werde nervös.
„Du weißt, dass ich mein Glück in diesem Unfall nicht sehen kann, da er meine Lebensqualität zum Negativen gewendet hat.", setze ich schüchtern an und hole einmal tief Luft, „Aber hätte ich dich nicht kennengelernt, würde meinem Leben nun bereits nicht mehr existieren. Dann hätte ich mich damals mit der Scherbe oder einem anderen Gegenstand umgebracht. Doch das habe ich nicht, weil mir deine witzige Art gefallen hat. Das habe ich erst viel viel später begriffen. Außerdem hatte ich, während ich ohnmächtig war, einen Traum. Wenn du jetzt lachst, kann ich das verstehen."
Kurz schaue ich zu Nikola hoch.
Er verzieht keine Miene, schaut wie gebannt herunter aufs Wasser.
Also spreche ich weiter.
„Ich habe in meinem Traum einen Mann kennengelernt, der genauso aussah wie du und der genauso klang wie du. Er war wirklich toll und ich habe mich von Fleck weg in ihn verliebt. Dann bin ich im Krankenhaus aufgewacht und du warst da. Du mit der gleichen Stimme aber einem ganz anderen Aussehen. Ich habe diesen Traumtyp vermisst. Und ich verstehe bis heute nicht, wie du ihm oder auch er dir so ähneln kann. Denn ich kannte dich vorher nicht.
Und auch Hawaii sieht genauso aus wie ich es geträumt habe, obwohl ich noch nie hier war. Aber ich weiß nicht wie das alles zusammen gehören kann und ich habe inzwischen aufgehört zu rätseln, denn ich werde das Rätsel selber nicht lösen können."
Ich muss nach Luft schnappen, da ich die letzten Sätze fast ohne zu atmen hervorgepresst habe.
„Träume versteht keiner. Sie sind unberechenbar. Was in deinem Kopf vorgeht, bestimmst allein du. Ja, sie spiegeln den Schlafenden wieder. Aber wenn du willst, können wir dieser ganzen Traumdeutungsache mal zusammen auf den Grund gehen. Freut mich ja, dass ich dein Traumtyp bin."
Nikola grinst schelmisch und ich muss ebenfalls lächeln.
„Ja, so ist es wohl."
Wir schweigen ein paar Minuten.
Scheinbar beide, um unseren Mut wiederzufinden, denn als wir dann beginnen gleichzeitig zu sprechen, müssen wir lachen.
Es tut gut und ist befreiend.
„Du erst bitte.", meint Nikola und wischt sich eine kleine Lachträne aus dem Augenwinkel.
„Ich wollte mich nur bei dir für die lieben Worte bedanken. Sie haben mir gezeigt, dass mein Leben vielleicht doch nicht so schlimm ist wie ich es angenommen habe. Und vor allem-"
Ich zeige runter zum Abgrund.
„Haben sie mich von dieser blöden Idee abgebracht."
Nikola lächelt mich an.
„Das freut mich. Denn dein Tod wäre schlimm für mich gewesen."
Er legt mir sein Herz zu Füßen und ich habe noch keinen einzigen Ton in der Richtung erwidert...
Damit ist jetzt Schluss!
Ich gebe mir einen riesigen Ruck und sage: „Ich bin auch in dich verliebt, Nikola! Vom zweiten Augenblick an. Denn im ersten musste ich den Schock verarbeiten, dass die Stimme aus dem Traum wirklich existiert. Doch von da an fand ich dich wirklich cool, auch wenn ich mich völlig daneben benommen habe. Als du dann sauer auf mich warst, hat mir das fast das Herz gebrochen, obwohl ich dein Reaktion natürlich gut verstehen konnte. Ich wollte mich mit dir versöhnen, denn du bist mir nicht mehr aus dem Kopf gegangen."
„Stimmt, du warst auf meinem Konzert. Danke, dass du den Krankenwagen gerufen hast. War echt kein Spaß, dieser krasse Kreislaufzusammenbruch. Die haben mich noch echt lange im Krankenhaus da behalten deswegen."
Er lächelt etwas schief.
„Ich war nur so ekelig zu dir, weil ich mir dich aus dem Kopf schlagen wollte. Oder besser musste. Du wolltest nichts mit mir zu tun haben, also musste ich dich irgendwie vergessen. Aber wie du vielleicht bemerkt hast, weil ich jetzt hier neben dir stehe, hat das nicht so ganz geklappt."
Nikola reibt sich verlegen den Nacken und schaut mich mit einem Blick an, den ich nicht richtig deuten kann.
„Also, da wir jetzt beide wissen, dass wir einander mögen, was ist jetzt?", fragt er dann zögerlich.
Mein Herz beginnt zu rasen.
Diese Frage überfordert mich immens.
In meinem Kopf rufen alle Gedanken durcheinander und ich kann keinen einzigen verstehen.
„Ääähmmm.", stottere ich und der Schweiß bricht mir aus.
„Soll ich die Frage beantworten?", fragt Nikola, da er scheinbar meine verzwickte Lage erkennt, und ich nicke erleichtert.
Und mit dem, was dann geschieht, hätte ich im Traum nicht gerechnet.
Nikola stellt sich vor mich und blickt mir tief in die Augen.
Seine Iris funkelt in tausend verschiedenen Farben, aus denen sich sein wunderschönes Grau zusammensetzt.
Er beugt sich leicht zu mir runter und gibt mir einen zärtlichen Kuss, direkt auf die Lippen.
In meinem Kopf explodiert alles.
Nichts fühlte sich je besser an als dieser Kuss.
Nikolas Vorgehen lässt mich meine Traumwelt vergessen.
Denn durch die Wirklichkeit, mit ihren schillernden bunten Farben, verblasst alles, was damals auf Hawaii in meinen Träumen geschehen ist.
„Was hältst du von der Antwort?", flüstert Nikola und sieht mich mit einem fragenden Ausdruck wieder an.
„Eine Bessere gibt es nicht.", flüstere ich zurück.
Er nähert sich mir ein weiteres Mal und ich lege meine Hand in seinen Nacken.
Nikola schaut mich verliebt an.
Auf seinen Lippen liegt ein glückliches Lächeln.
„Auf eine wunderbare Zukunft.", flüstere ich voller Hoffnung.
Und als Bestätigung küsst er mich erneut.

𝕾𝖈𝖍𝖓𝖊𝖊𝖘𝖈𝖍𝖎𝖈𝖐𝖘𝖆𝖑Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt