Kapitel 28

31 0 0
                                    

In der Wissenschaft spricht man von hypnagogen Wahrnehmungen, wenn das Wort Traum aufkommt.
Träume drücken die geheimen Ängste und Wünsche des Schlafenden aus und lassen das Gehirn reifen.

Ich habe lange überlegt.
Im Internet recherchiert.
Herumliegende Reiseführer durchgeblättert.
Orte jener Art, die ich ausgewählt habe, gibt es viele.
Doch in Frage kam an Ende meiner Recherche für mich nur einer.
Erst habe ich gedacht, dass meine Reise sich einfach gestalten würde.
Aber als ich beim Abendessen Mom von meiner Auszeit berichten will, verläuft die Situation komplett anders als ich es erwartet hatte...

Ich lege mir die Serviette auf den Schoß.
Meine Finger zittern ein bisschen.
Meine Güte, weshalb bin ich denn so nervös?
Ich möchte doch nur...
Schnell kneife ich mir selber in die Hand und rücke mit der Sprache heraus.
„Mom, also...ich...ich möchte gerne nach...", setze ich an, doch als sie ihr Besteck bei Seite legt und mich mit versteinerter Miene ansieht, verstumme ich sofort.
„Addison, es tut mir leid, aber ich werde für die nächsten Wochen nicht für dich sorgen können. Ich brauche eine Auszeit und muss mich selbst wiederfinden. In meinem Leben läuft gerade einiges nicht rund, sodass ich beschlossen habe, eine Kur zu machen. Ich möchte jetzt bitte nicht darüber reden, aber mein Zug fährt bereits morgen früh ab."
Ihre Miene jagt mir einen Pfeil ins Herz.
Er bohrt sich tief hinein und hinterlässt eine klaffende Wunde.
„Wo auch immer du hin willst, ich kann dich leider nicht fahren. Tut mir leid."
Ich bin sprachlos.
Natürlich weiß ich sofort was sie mir indirekt mitteilen wollte.
Der Pfeil dreht sich schmerzhaft in meinem Herz hin und her.
Mom und Dad haben sich also wirklich schlussendlich getrennt...
Ein schlechtes Gewissen hangelt sich von der Magengrube aufwärts und bereitet mir sofort Übelkeit.
Mein Vorhaben kommt mir Anhand dieser Situation noch egoistischer vor.
Dennoch verdeutlicht mir diese Situation nur noch einmal, dass mein Entschluss richtig.
Alles in meinem Leben läuft gerade aus den Fugen.
Nichts ist mehr so wie es sein sollte.
Sinnlos also, weiterhin dieser Welt beizuwohnen.
Aber soll denn auf das Haus aufpassen?
Wer soll Flora versorgen?
Wie soll das alles denn funktionieren?!
In meinem Kopf beginnt es laut zu rattern.
Hinter meinen Schläfen pocht ein spitzer Schmerz.
Ich weiß, dass es die richtige Entscheidung ist.
Doch sie ist schwieriger umzusetzen als gedacht...

(ein paar Tage später)

„Vielen Dank nochmal.", rufe ich und rolle die gepflasterte Auffahrt herunter.
Meine Freundin Agnes winkt mir hinterher.
Auf ihren Arm hockt Flora und genießt es gekrault zu werden.
Sie schnurrt wie eine kleine Nähmaschine und wirft mir ein leises Maunzen hinterher.
Eine kleine Träne rinnt aus meinem Augenwinkel.
Schnell wische ich sie weg.
Sie würde da glücklich werden, bestimmt.
Nur, dass ihre Pflegerin so ahnungslos ist...
Ich nehme eine kleine Auszeit, hatte ich gesagt.
In 2 Wochen bin ich wieder da, hatte ich gesagt.
Und beides ist gelogen.
Alle glauben, ich bin im Urlaub.
Ich kehre zu meinem Bungalow zurück.
Im diffusen Licht des beginnenden Tages glänzt und glitzert die steinerne Fassade.
Die Sonnenstrahlen spiegeln sich auf dem Dach.
Eine Welle von Melancholie überrollt mich.
Es ist doch schon alles geplant!
Es gibt kein zurück mehr, das muss mir klar sein...
Ich schließe meine Haustür auf.
Mein gepackter Rucksack steht bereits im Flur.
Ich nehme ihn auf den Schoß und rufe mir ein Taxi.
Es dauert nicht lange, dann parkt das dottergelbe Auto vor meinem Gartentor.
Ich atme einmal tief durch, dann schließe ich die Tür ab und verstecke den Schlüssel in den Hornveilchen, die in einem Topf neben meinem Eingang stehen.
Wieder rollt eine Träne meine Wange herunter.
„Ist alles okay, Miss? Gibt es ein Problem?", fragt der Taxifahrer mitfühlend.
Er hat lässig eine Hand aufs Lenkrad gelegt, trägt eine Sonnenbrille und kaut Kaugummi, doch in seinen Gesichtszügen kann ich das Mitleid deutlich ablesen.
„Alles gut.", erwidere ich und ziehe die Nase hoch.
Der Fahrer verstaut meinen Rollstuhl im geräumigen Kofferraum und hilft mir auf die Rückbank, doch nicht ohne mich dabei permanent zu mustern.
Die Fahrt zum Flughafen dehnt sich wie ein Gummiband und es fällt mir schwer die Blicke zu ignorieren, die mir alle zwei Minuten durch den Rückspiegel zugeworfen werden.

Als das Navigationssystem unsere unmittelbare Ankunft ankündigt, zwickt es in meinem Bauch.
Ich könnte einfach wieder zurückgehen, mich vom Taxi zurückfahren lassen, nach Hause...
Nein!, sage ich mir in Gedanken und schiebe all die protestierenden Stimmchen in die hintersten Ecken meines Gehirns.
Dort konnten sie meinetwegen so viel maulen wie sie wollten, doch ich kann sie nicht mehr hören.
Der Taxifahrer begleitet mich noch bis zum Terminal.
Überrumpelt und verblüfft von der Größe und der vielen hektisch umher wuselnden Menschen halte ich die Luft an.
Dies hier, dieser Flughafen, diese Leute, das ist wieder etwas ganz neues für mich.
„Kann ich noch irgendwie behilflich sein, Miss?", erkundigt sich der Fahrer erneut.
„Nein, nein, danke.", entgegne ich und bezahle die Taxifahrt.
Dann bin ich auf mich alleine gestellt.
Ich warte ein paar Minuten und beobachte die Personen, die durch die Eingangstür das Terminal betreten.
Sie alle steuern zielstrebig das Check-In an, also werde ich dort wohl auch richtig sein.
Ich stelle mich an die Schlange an und werde wie eh und je von vielen Blicken gemustert.
Einige tuscheln oder kichern, zeigen mit dem Finger auf mich.
Ich bemühe mich sie auszublenden.
Nachdem ich meine Boardingkarte in Empfang genommen habe, begebe ich mich zur Sicherheitskontrolle.
Die Abläufe eines Flughafens sind mir ab diesem Zeitpunkt wieder vertraut, obwohl ich sie in Wirklichkeit noch nie erlebt habe.
Ich lasse mich von dieser Erkenntnis nicht beunruhigen und atme ein paar Mal tief ein und aus.
Schon bald winkt eine Kontrolleurin mich zu sich und ich rolle auf sie zu.

𝕾𝖈𝖍𝖓𝖊𝖊𝖘𝖈𝖍𝖎𝖈𝖐𝖘𝖆𝖑Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt