Kapitel 27

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Die Tränen laufen mir die Wange herunter.
Ich drehe mein Gesicht zum Fenster, damit Mom nicht sieht, dass ich weine.
Denn sie hat ihre ganz eigenen Probleme.
Als hätte ich nicht gesehen, dass ihre Augen rot und aufgequollen sind...
Da bringen auch die 17 Schichten Makeup, die leider eh nicht ihrem Hautton entsprechen, herzlich wenig.
Ich kann mir vorstellen, was geschehen ist.
Ob sie es mir erzählen würde, weiß ich nicht, aber ich werde sie nicht dazu drängen, wenn sie nicht möchte.
Ich muss erst einmal meine eigene Gefühlswelt in den Zaum bekommen.
Miguels Worte sind tief in mein Herz eingedrungen und haben dort den tiefen Krater aufgerissen, den ich einige Wochen zuvor gut versiegelt hatte.
Die Fahrt verläuft schweigend und ich unterdrücke die Schluchzer, die aus mir herauszubrechen drohen.
Als mein Bungalow in Sicht kommt, fühle ich das starke Bedürfnis, alles in meinem Leben kurz und klein zu schlagen.
Nichts mehr behalten, was mich an diesen Zustand erinnern könnte.
Mom lenkt das Auto auf die Auffahrt und hilft mir heraus.
Dabei schaut sie mich nicht an.
Ich verziehe mich augenblicklich in mein Zimmer, schließe die Tür hinter mir ab und beginne in ein Kissen zu schluchzen.
Miguel hat genau das wieder hervorgekramt, was ich verstecken wollte.
Der Lebensmut hat mich wieder verlassen.
Winkend hat er sich verabschiedet und ist in seinem dunklen Korridor verschwunden, wo kein einziges Lichtlein brennt.
Dunkelheit.
Dieses Wort beschreibt den Zustand in meinem Inneren gerade sehr zutreffend.

Ich weiß nicht wie viel Zeit vergangen ist.
Mein Kissen ist nass und meine Augen brennen.
In meinem Hals steckt ein dicker Kloß und meine Glieder fühlen sich butterweich an.
„Schatz, machst du bitte auf? Hier ist jemand der dich sprechen möchte."
Mom klopft von außen leicht an meine Tür.
Wer auch immer da mit mir sprechen will, es ist mir egal.
Ich möchte niemanden sehen.
„Addison, kann ich reinkommen?"
„Nein!", fauche ich, begleitet von einem Aufschluchzer.
Vor der Tür wird gemurmelt.
Schritte entfernen sich.
Einige Minutenbruchteile später klopft es mehrmals laut an meinem Fenster.
Ich schaue nicht auf.
Doch ich habe die Stimme erkannt.
„Addison. Mach auf, bitte. Ich habe Neuigkeiten, die dich interessieren könnten.", hallt es dumpf von draußen.
Zögernd wische ich mir die Tränen mit dem Ärmel ab und rolle zum Fenster.
Nikola wartet draußen und wird von der untergehenden Sonne angestrahlt.
Wie er dort so im goldenen Licht steht, sieht er fast aus wie ein Engel.
Es fehlen nur die weißen Schwingen.
Ich öffne das Fenster einen Spalt.
„Was willst du?", schniefe ich.
„Jetzt lass mich doch rein. Bitte."
„Kriminelle setzen keinen Fuß in mein Haus.", erkläre ich und verschränke die Arme vor der Brust.
Nikola zieht beide Augenbrauen hoch.
„Dein Ernst? Kriminell? Ich? Ich hab einfach nur dem Mann eins auf die Nase gegeben, der dich bis aufs Blut beleidigt hat."
Mit Nachdruck schließe ich das Fenster und verlasse das Zimmer.

Nikola schaut Addison hinterher.
Sein Blick bleibt auf ihrem schwarzen Haar haften.
Wie dunkle Seide...
Er klopft erneut gegen die blitzblank geputzte Fensterscheibe und ruft ihren Namen, doch sie zieht die Zimmertür hinter sich ins Schloss.
Nikola lässt die Schultern sinken.
Was ist bloß los mit ihr?
Addison hat ihn doch noch im Krankenhaus besucht.
Sie hat augenscheinlich seine Nähe gesucht.
Auch auf seinem Konzert.
Natürlich hatte er sie bemerkt.
Bei der Erinnerung muss Nikola unwillkürlich grinsen.
Die Schmetterlinge in seinem Bauch falten die Flügel auseinander und erheben sich flatternd.
Seit er sie das erste Mal gesehen hatte, im Bett liegend, mit der Glasscherbe in der Hand, als sie sich die Pulsadern aufschlitzen wollte, geben sie keinen Tag Ruhe.
Er hat versucht sie zu vergessen.
Denn er war sich in Klaren darüber, dass er nicht an sie rankommen würde.
Addison hat in fasziniert.
Diese kleine Person mit der harten Schale, in der ein weicher Kern ruht.
Sie hat ihn abblitzen lassen, ihn gehasst.
Nikola kann sich nicht erklären warum.
So hat aber auch er ihr die kalte Schulter gezeigt.
Und genau diese Reaktion seinerseits war es scheinbar, die sie wieder angezogen hat.
Weshalb auch immer.
Geht es Addison nun vielleicht genauso wie ihm?
„Also, was willst du?"
Nikola schießt herum.
Dort sitzt sie in ihrem Rollstuhl.
Angestrahlt vom Licht der untergehenden Sonne.
In seinen Augen sieht sie aus wie ein übernatürliches Geschöpf einer anderen Hemisphäre.
Unerreichbar für einen Normalo wie ihn.
Er geht mit einem Lächeln auf den Lippen auf sie zu.

Was grinst der denn so blöd?!, denke ich verwundert.
„Schön dich zu sehen. Du siehst gut aus.", meint Nikola und setzt sich auf die Holzbank neben dem Haus.
Schleimer.
„Danke.", entgegne ich kalt.
„Möchtest du darüber reden, was Mister Blue zu dir gesagt hat?"
„Unbedingt.", höhne ich ironisch.
„Er ist wirklich ein Hinterteil. Das, was er gesagt hat, war unglaublich gemein. Sowas hast du nicht verdient."
Die Wut wallt in mir auf.
Mitleid ist genau das, was ich gerade nicht haben will.
„Er hat ja recht!", fauche ich, „Ich selber kann mich nicht gebrauchen und die anderen mich auch nicht. Ich bin nur eine Behinderung für die Gesellschaft. Ich liege auf dem Geldbeutel des Staates. Was soll man denn mit mir anfangen?!"
Nikola steht stocksteif da.
Meine Reaktion hat ihn geschockt.
„Aber-", setzt er mit zitternder Stimme an, doch ich hebe die Hand um ihn zu stoppen.
„Nein. Sag nichts. Ich habe mich entschieden, dass ich eine Reise machen möchte. Um mich selber zu recht zu finden. Um von diesen Gedanken, die ich soeben aufgezählt habe, freizukommen .Ich brauche eine kurze Auszeit von dem hier.", erkläre ich und mache eine allumfassende Handbewegung.
Doch in diesem Moment weiß nur ich, dass ich etwas ganz anderes mit diesem Trip bezwecken will.









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