Kapitel 6

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Ich hätte nie gedacht, dass es so schwierig werden würde, meine Gefühle zu unterdrücken.
Aber das Schicksal meint es auch wirklich nicht gut mit mir.
Als ich auf den Flur trete, schlendert Valentin gerade vorbei.
Er wirft mir ein Lächeln zu, bei dem meine Knie augenblicklich weich werden, streicht sich eine Strähne aus dem Gesicht und verschwindet in seinem Zimmer.
Ich muss erst einmal tief durchatmen, bis ich weitergehen kann, doch auch da zittern meine Knie immer noch leicht und ich muss mich kurz an der Wand abstützen.
„Ach, Scarlet?"
Nicht umdrehen.
Nicht umdrehen.
Nicht-
„Ja, was gibt's de-?", frage ich und schaue ihn an.
Meine Stimme bricht ab und mir stockt der Atem.
„Es ist so heiß hier gerade, findest du nicht auch?", fragt er.
Mein Blick klebt an seinem nackten, extrem muskulösen Oberkörper.
Ich schlucke und reiße die Augen auf.
Was tut er da?
Valentin kommt langsam auf mich zu.
Mein Puls beschleunigt.
„Bestimmt ist die Klimaanlage kaputt.", meint er und kommt mir immer näher.
Für mich hätte es gar keine Klimaanlage mehr benötigt.
Ein eiskalter Schauer läuft mir den Rücken hinunter.
Er will mich verführen!
In meinem Kopf schrillen sämtliche Alarmglocken.
Das geht nicht!
Das darf nicht!
Alles in mir schreit: „WEG HIER!"
„Ich habe mein Zimmer kürzlich umgestellt, möchtest du es mal angucken?"
Nein!
Immer noch kann ich meinen Blick nicht von seinem Sixpack wenden.
„Was zum Geier ist denn hier los? Valentin?!"
Elenas Stimme hallt von den Wänden wieder.
Valentin dreht sich zu ihr herum und endlich kann ich meine Erstarrung lösen.
Ich haste durch die Küche, springe in großen Sätzen die Treppe runter und reiße die Tür auf.
Die Wärme der Nacht empfängt mich und ich renne raus in die Dunkelheit.
Egal wohin, bloß weg!
Das sanfte Licht der Laternen leuchtet mir den Weg.
Ich eile die Straße hinunter.
Meine Sicht wird verschwommen und ich bemerke die Tränen erst, als ich am Strand ankomme.
Nach Luft ringend bleibe ich kurz vor der Wasserkante stehen.
Das Meer schwappt mir über die Füße und ich spüre, wie sich das Wasser zielsicher den Weg in meine Turnschuhe sucht.
Ich wische mir die Tränen ab und schaue hoch zum Mond, der groß und rund am Himmel steht.
Langsam stapfe ich durchs Wasser zu einem nahegelegenen Steg und lass mich auf das kühle Holz sinken.
Das Rauschen des Meeres beruhigt meinen Herzschlag und lässt mich langsam zur Ruhe kommen.
Trotzdem rinnen die Tränen weiterhin ungehindert aus meinem Augenwinkel.
Ich schaue erneut zum Mond hinauf und vermisse auf einmal schrecklich mein Zuhause.
Mein Dorf.
Meine Katze.
Den Wald.
Den Schnee.
Die Kälte.
Und vor allem das Alleinsein in meinem Bungalow.
Gibt es keine anderen Menschen im unmittelbaren Umfeld, kann man auch niemanden verletzen oder selber verletzt werden.
Das Zusammenleben mit Scarlets WG Partnern ist falsch.
Ich bin nicht Scarlet.
Ich möchte wieder zurück nach Hause, wie auch immer ich hier hergekommen bin.
Ich fasse einen Entschluss.
Ob das das Richtige sein wird, kann ich nicht sagen.
Aber es wäre die einzige Möglichkeit aus dieser verzwickten Lage zu entfliehen.
Erschöpft und verzweifelt umklammere ich meine Beine und schluchze auf.
„Hiki anei iaʻu ke kōkua?"
Erschrocken schaue ich auf und sehe eine Person neben mir auf dem Steg stehen.
Sie leuchtet mir mit einer hellen Taschenlampe direkt ins verheulte Gesicht.
„I'm sorry, I can't understand you.", erkläre ich und steige auf die englische Sprache um, denn in der WG wird lediglich Deutsch gesprochen, da Paul und Elena von dort stammen.
„Madam, I asked if I could help you. I heard your crying from far away. You sounded very desperate."
Wortlos stehe ich auf.
„I'm fine.", sage ich entschlossen, ziehe einmal die Nase hoch und stampfe davon.
Ich will kein Mitleid.
Ich brauche keine Hilfe von einem Typen, der mich mitten in der Nacht mit einer Taschenlampe blendet und mir sagt, dass ich zu laut geheult habe.
Mit schnellen Schritten verlasse ich den Strand und höre noch, wie der Mann „Okay, okay, I'm sorry." murmelt.
Als ich seinen Blick in meinem Rücken oder vielmehr auf meinem Hintern nicht mehr spüren kann, bleibe ich stehen und lasse mich auf der nächstbesten Sitzgelegenheit nieder.
Ich muss nachdenken.
Darüber, wo ich die Nacht verbringen kann.
Nach kurzem Grübeln ziehe ich mein Handy beziehungsweise das von Scarlet aus der Tasche und schalte es ein.
Sie hat es nicht mit einem Pinn gesperrt, sondern mit einem einfachen Mustercode, den ich bereits nach wenigen Minuten errate.
Ich öffne die Suchleiste und durchkämme das Internet nach einem günstigen Hotel für die Nacht.
Kurz darauf mache ich mich auf den Weg.
Das Gebäude ist unscheinbar, jedoch hell beleuchtet.
Ich drücke die Glastür auf und mir werden die Haare aus dem Gesicht geblasen.
Die Klimaanlage läuft auf höchster Stufe und es ist eisig in der kleinen Empfangshalle.
Ich versuche mich aus der Gebläserichtung zu drehen und trete an den Tresen.
„Hello, do you maybe have an empty room for one night?, erkundige ich mich nach einem Zimmer.
Die Dame hinter dem Tresen blinzelt verdutzt und redet dann in einer mir unbekannten Sprache auf eine andere Frau ein.
Beide starren mich danach an und ich frage mich, was ich denn falsch gemacht habe.
„Jes, wi häf.", sagt die eine.
Es ist offensichtlich, dass sie wenig Englisch beherrscht.
Der Preis wird mir auf einem Zettel gekritzelt.
Er kommt mir ziemlich happig vor, doch ich zahle wortlos und erhalte einen Zimmerschlüssel.
Nach endlosem Treppensteigen erreiche ich mein Zimmer und brauche mehrere Anläufe um die Tür aufzuschließen, denn das rostige Schloss klemmt.
Als ich das Zimmer betrete, werden mir erneut die Haare aus dem Gesicht geblasen und ich haste zur Klimaanlage, um sie runterzudrehen.
Das Zimmer ist für den Preis, den ich bezahlt habe, sehr spärlich und geschmacklos eingerichtet.
Doch ich habe keine Lust, den Preis zu hinterfragen, denn dazu, die Treppen erneut herunterzulaufen, habe ich wirklich keine Energie mehr.
Erschöpft lasse ich mich auf das kleine Bett fallen und schließe die Augen.

𝕾𝖈𝖍𝖓𝖊𝖊𝖘𝖈𝖍𝖎𝖈𝖐𝖘𝖆𝖑Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt