22. Kapitel - So etwas wie Zivilisation

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Newts Sicht:

Der goldene Schein der aufgehenden Sonne tauchte den Horizont in ein warmes Glühen. Rosaly und ich tauschten einen vielsagenden Blick aus, bevor wir uns für den Abstieg bereitmachten. Ich folgte einem Weg am Rand des Daches entlang, doch die Höhe war nach wie vor eine Quelle der Unbehaglichkeit für mich. Meine Blicke hingen daher auf Rosaly, während sie sicher ihre Schritte setzte. Kurz vor der Leiter wandte sie sich zu mir um, ihre braunen Haare glänzten im morgendlichen Licht.
Sie blieb direkt vor mir stehen, unsere Schuhspitzen berührten sich beinahe, und als ich meinen Blick zu ihr senkte, hob ich fragend eine Braue. Ihre Augen ruhten jedoch fest auf mir. Dieser intensive Blick hatte die Fähigkeit, mich zu fesseln. Immer noch konnte ich die sanfte Berührung ihrer Lippen auf meinen spüren, und ohne Worte legte ich meine Hand auf ihre linke Wange. Mein Daumen strich vorsichtig über ihre Haut, während meine Finger behutsam ihr Kinn umfassten.
Ein Hauch von Zaudern durchzog meine Bewegungen, als ich Rosalys Kinn leicht umschloss, und ich konnte der Verlockung nicht widerstehen, mein Gesicht dem ihren näherzubringen. Meine Lippen fanden ihre erneut. Der Kuss war von einer anderen Art, als die, die wir zuvor geteilt hatten. Er war ruhig, von einer stillen Intensität durchdrungen, die eine leidenschaftliche Botschaft übermittelte. Es war ganz so, als ob wir uns damit alles sagen würden, was uns am Herzen lag, dass wir füreinander da wären. Niemand konnte nämlich wissen, was die Zukunft bringen würde.
Doch die Zeit blieb nicht stehen, und der Klang eines weiteren Rufens durchbrach die Schönheit des Moments: "Kommt ihr?", rief Liv von unten.
Mit einem leichten Seufzer lösten wir uns voneinander. Rosalys Blick wanderte hinab und sie antwortete: "Ja!"
Trotz ihrer Zustimmung war ihre Stimme von einem Hauch des Widerwillens durchzogen. Ihrer Tonlage konnte man entnehmen, dass sie am liebsten nicht nach unten wollte.
"Glaub mir, ich würde das hier auch lieber fortführen", flüsterte ich, aber wir hatten noch eine lange Reise vor uns.

Entsprechend begannen wir den Abstieg. Unten wartete Liv bereits am Fenster auf uns. Rosaly verschwand im Inneren des Raums, während ich mir Livs tanzende Augenbrauen ansehen musste.
"Naaa", sagte sie, als sie an meiner Seite den Raum betrat und ihren Ellenbogen zwischen meine Rippen stieß.
"Was...?", fragte ich genervt.
"Ach, nichts", entgegnete sie unschuldig, "aber was erwarte ich auch anderes, wenn ihr weniger als einen Monat zusammen seid?"
Ihre Worte hatten einen neckenden Unterton, während sie weiter redete. Ich seufzte, rollte mit meinen Augen.
"Es ist definitiv zu früh, um dich zu ertragen."
"Das tut jetzt aber weh", meinte Liv theatralisch und verschwand dann zu Minho. Die beiden machten sich zusammen für den Aufbruch bereit. Ich folgte ihrem Beispiel, aber niemand von uns konnte ahnen, welche Herausforderungen die nächsten Tage für uns bereithalten würden. Einstweilen würden wir uns auf die Suche nach diesem seltsamen Marcus begeben, wenn die Reise dorthin auch auf Umwegen stattfinden würde. Wussten wir aber noch nicht.

Rosalys Sicht:

Etwas später waren Newt und ich vom Dach heruntergeklettert und wieder zu den anderen zurückgekehrt, auch wenn mehr gezwungen als wollend. Natürlich hätte ich mir mehr Zeit mit Newt allein gewünscht, doch ich verstand, dass wir ein wichtigeres Ziel hatten. Wir mussten so schnell wie möglich zum Rechten Arm kommen, bevor Wicked uns erwischte.
Im Raum angekommen, in dem wir geschlafen hatten, war unsere Gruppe aufbruchsbereit und Jorge packte irgendwelche Sachen ein. Er spazierte durchs Zimmer, doch was er suchte, nun, es interessierte mich nicht. Ich ging vorbei an Teresa, die nachdenklich aus einem Fenster in die Ferne starrte. Auf ihrem Gesicht waren keine Emotionen zu sehen, doch ansprechen wollte ich sie darauf nicht. Ebendeswegen schritt ich zu meinem kleinen Rucksack, der am Boden lag und warf mir jenen um meine Schulter.
Emilia saß immer noch am Boden und sah überhaupt nicht motiviert aus. Ihre Haare standen ihr in alle Richtungen ab. Ihr Gesicht war durch die ganze Sonne trocken und rot.
Die Blondine befeuchtete ihre staubtrockenen Lippen und ihre blauen Augen hatten etwas von ihrer Lebensenergie verloren; sie starrten einfach die gegenüberliegende Wand an. Emilias Anblick ließ mein Herz schwerer werden. Das Mädchen war nämlich immer die Freude in Person gewesen und jetzt schien von dieser nicht mehr viel übriggeblieben zu sein. Seit der Nacht der Griewer hatte ich sie nur mehr selten lächeln gesehen, doch mir blieb nur zu hoffen übrig.

Die Ewigkeit einer verdammten Reise | Newt Ff / Teil 2 ✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt