Heaven - Teil 3

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„Los, los! Stellt euch auf! Schnell! Wir müssen los." Die Betreuerinnen scheuchen uns zusammen. Gleich beginnt die Ernte. Alle Kinder des Waisenhauses stehen nun in der Eingangshalle. Sauber, frisiert und schick gemacht. Nervös wische ich mir permanent die schweißnassen Hände an meinem Kleid ab. Seit Memorys Besuch habe ich keinen Ton mehr gesagt. Generell war es heute sehr leise im Haus. Alle haben Angst, denn sie wissen was sie erwartet. Viele sind aus den Distrikten oder haben im Kapitol die Hungerspiele und so auch die Ernten mitverfolgt. Ich schaue auf meine Armbanduhr, das einzige, was mir neben des Kleides von Zuhause noch geblieben ist. Viertel vor Zwölf. In einer halben Stunde beginnt die Ernte. „Stellt euch zu zweit auf, damit wir euch besser zählen können.", kommandiert eine gesichtslose Stimme und wie aus dem Nichts steht Story neben mir und nimmt meine Hand. Ich sehe sie an und erkenne meine eigene Angst, meine eigene Verzweiflung, meine eigene Wut in ihren Augen wieder. Story scheint endlich verstanden zu haben. Sie drückt meine Hand und das hat etwas Tröstendes. Ich bringe ein trauriges Lächeln zu Stande. Ich sehe, wie sie ihre Lippen bewegt, aber ich verstehe sie nicht, da uns die Betreuerinnen in diesem Moment zum Gehen auffordern.

Der Marktplatz sieht erschreckend gleich aus wie der in Distrikt 12. Als wir ihn durch eine Seitengasse betraten sind Story und ich beide stehen geblieben. Tausende Bilder durchströmten mich. Bilder von Distrikt 12, Bilder von meinen Eltern, Bilder von den vergangenen Tributen. Story fasste sich schneller als ich und zog mich vorwärts, in die Reihe, in der wir nun nebeneinander stehen. Zitternd, ängstlich, stumm. Als die Kirchturmuhr Punkt 12 schlägt betritt eine Frau die Bühne. Sie sieht nicht so grotesk aus wie ihrer Zeit Effie Trinket, aber sie hat etwas an sich, an dem man erkennen kann, dass sie ursprünglich aus dem Kapitol stammt. Zuerst bemerke ich es nicht, aber dann erkenne ich, warum ich mir so sicher bin. Es liegt nicht an ihrem Äußeren. Daran gemessen könnte sie auch aus einem der Distrikte sein. Nein. Die Frau, die da auf der Bühne steht; Die Frau, die die Betreuerin der Tribute sein wird, ist Shanice Salvadora! Die erste Betreuerin, die ich hier im Kapitol kennen gelernt habe. Ich stoße Story an, die sich leicht zu mir hinüberlehnt. Leise frage ich sie:„Ist das nicht Shanice Salvadora?" Sie zieht die Augen zu Schlitzen zusammen und atmet dann zischend ein, als sie sie erkennt. Das ist Bestätigung genug. Shanice fängt an mit ihrer tiefen, ruhigen Stimme zu sprechen. Darin ist sie das genaue Gegenteil zu Effie, deren Stimme stets schrill und aufgedreht war. Sie kündigt allerdings nur einen Film an, den uns Präsidentin Paylor aus Distrikt 13 gesandt hat. Der Film beginnt mit Flammen und man hört die Stimme von Präsidentin Paylor, wie sie über die Rebellion berichtet. Die Rebellion, die durch die Geste von Katniss Everdeen in den 74. Hungerspielen begann und nicht durch die 75. Hungerspiele, das Jubeljubiläum, aufgehalten werden konnte. Es werden Bilder von der Beerenszene in den 74. Hungerspielen gezeigt und einige Szenen einschließlich der Zerstörung der Arena im Jubeljubiläum eingespielt. Dann werden die Rebellentruppen eingeblendet, wie sie in das Kapitol einmarschieren und Paylor berichtet über die vielen Verluste. Anschließend betont sie noch einmal den endgültigen Sieg auf Seiten der Rebellen und Katniss wird erneut gezeigt. Sie trägt ihr Hochzeitskleid, das anfängt zu brennen und sich in das Spotttölpelkleid verwandelt. In diesem Moment empfinde ich wieder Bewunderung ihr gegenüber, dass sie es geschafft hat, Panem aus dem Griff von Snow zu befreien. Dann wird der Bildschirm schwarz. Verwundert stelle ich fest, dass sie die Ermordung von Coin, den Kopf der Rebellion und die eigentliche Präsidentin Panems, durch Katniss weggelassen haben. Warum nur?

Anders als in Distikt zwölf freut sich unsere Betreuerin nicht so wahnsinnig wie Effie über ihre Aufgabe, die Todgeweihten auszulosen. Als dennoch ihre Schritte langsam aber sicher zu der Kugel mit den Mädchen gehen, fange ich an wie wild zu zittern und ich greife nach Storys Hand, die eiskalt ist. Dann geht alles ganz schnell. Shanice zieht einen Zettel, faltet ihn auseinander und verliest dann mit klarer Stimmer den Namen: „Heaven Undersee."

Ein langer schriller Schrei überquert den Platz. Zuerst denke ich, er stammt von mir. Dann merke ich, dass nicht ich die jenige ist, die schreit. Ich drehe meinen Kopf zur Seite und sehe Storys mit Tränen überströmtes Gesicht. Als ich an ihr vorbeigehen will, zerrt sie an meinem Arm. „Nein! NEIN!" Ich schaue ihr tief in die Augen und sehe in ihnen die Angst um mich. Langsam lege ich meine Hand auf ihre, die meinen Arm umklammert und drücke sie leicht. Sie lässt mich los und ich gehe mit kleinen schnellen Schritten nach vorne zur Bühne und erklimme sie hastig. Von dort oben sehen die Zuschauer so winzig aus. Meine neue Betreuerin reicht mir die Hand und als ich sie fasse... irre ich mich oder ist das wirklich Trauer in ihrem Blich? Erinnert sie sich an mich? An mich, das junge Mädchen, dass aus Distrikt 12 ins Kapitol geflüchtet ist? Dass ihre Eltern bei dem Bombenangriff verloren hat? Dass nun der Rache der Distrikte gegen das Kapitol ausgesetzt ist, obwohl sie eigentlich gar nicht aus diesem stammt? Noch bevor ich weiter darüber nachgrübeln kann, wendet sie sich von mir ab, um den anderen Tribut zu losen. Ich lasse meinen Blick über das Publikum schweifen. Ob sie mich anfeuern werden, so wie sie es damals immer getan haben? Oder werden sie trauern? Und wer von ihnen wird wohl mein Mittribut werden? Da erst bemerke ich die Sanitäter, die ein junges bewusstloses Mädchen wegtragen. „Story...", flüstere ich geschockt. Tränen steigen mir in die Augen. Wenn sie jetzt ohnmächtig ist... dann werde ich mich nicht von ihr verabschieden können. „Los! Gebt euch die Hände." Erst da bemerke ich, wie weit wir in der Ernte schon sind. Ich blicke geschockt in das Gesicht von Memory, die nun mit mir in die Arena geworfen wird. Es tut mir so leid. Und ich habe Angst. Wir reichen uns die Hände und werden dann ins Gebäude gebracht. Die kommenden 10 Minuten sind für den Abschied von unserer Familie und unseren Freunden gedacht. Die ersten fünf Minuten kommt niemand. Natürlich nicht, meine Familie ist tot. Dann sind die nächsten fünf Minuten für den Abschied von meinen Freunden dran und ich sehe sehnsüchtig auf die Tür mit der Hoffnung, sie würde sich öffnen und Story oder Saphira, meine Schulfreundin, würden darin stehen. Aber keiner von den beiden kommt. Story ist ohnmächtig und Saphira wahrscheinlich noch auf ihrer Ernte, denn sie lebt in einem anderen Bezirk. Hoffentlich wurde sie nicht gezogen. Dann kommt Shanice und fordert mich auf, mit zu kommen. Ich folge ihr zu einem Hintereingang und sehe dort ein schwarzes Auto mit abgedunkelten Fenstern. Ich besteige den Wagen als erstes und schließe kurz meine Augen, bis auch die anderen endlich eingestiegen sind. Dann setzen wir uns in Bewegung und wie automatisch drehe ich mich um und als ich mein Stadtviertel langsam verschwinden sehe, rollt mir die erste Träne über die Wange.


Die Tribute von Panem - Die Rache der DistrikteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt