Heaven - Teil 6

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"Heaven!" Ich schrecke aus dem Schlaf, als ich höre, wie Wisdom verzweifelt meinen Namen schreit und an die Tür hämmert. Was ist passiert? Ich reibe mir die Augen und blicke zur Tür. Mein Zimmer ist noch komplett dunkel, es muss mitten in der Nacht sein. Warum weckt er mich dann? Langsam gehe ich zur Tür, als Wisdom erneut meinen Namen schreit. "Verdammt Heaven wach auf!" Ich öffne die Tür und blicke geradewegs in die weit aufgerissenen Augen meines Mittributes. Seine Faust ist erhoben, um erneut gegen die Tür zu hämmern und er hält mitten in der Bewegung inne, als er mich sieht. Ich schaue ihn fragend an, doch er schüttelt nur den Kopf und zieht mich durch die Flure.

Auch der Flur ist noch dunkel, nur im Schein des Mondes, der durch das große Fenster am Ende des Flures dringt, erkenne ich die kleine Gestalt, die vor dem Aufzug hockt. Ich flüstere ihren Namen. "Memory." Ihr Kopf dreht sich in meine Richtung. Zuerst sehe ich nur ihre großen Augen und denke, dass sie weint, doch bei genauerem hinsehen erkenne ich, dass es keine Tränen sind, die ihr über das Gesicht laufen. Es ist Blut. Ich kniee mich neben sie und hebe ihr Kinn hoch. Zwei tiefe Schrammen zieren ihr ganzes Gesicht. Ihr rechtes Auge ist angeschwollen und ihre Unterlippe ist dick und blutig. Die Haare des kleinen Mädchens sind von dem Blut verklebt und sie wimmert leise. Einen Moment lang sitze ich reglos da und starre auf ihre Wunden, dann reiße ich mich zusammen, wende den Blick ab und stehe auf. "Was ist passiert?" Meine Frage ist nicht mehr als ein Flüstern. Memory wimmert jetzt nur noch lauter. Ich schaue ratlos zu Wisdom. Er zuckt die Schultern und schüttelt den Kopf. "Ich weiß es nicht, aber wir sollten schnell hier weg, bevor Cecilia kommt und..." Genau in diesem Moment wird uns gegenüber eine Tür aufgerissen und wir drei zucken zusammen. Ich suche fieberhaft nach einer Ausrede, doch ich finde keine. Aber da erkenne ich ihre Augen, die trotz der Dunkelheit aufgrund ihres ungewöhnlichen Farbtons hervorstechen und ich atme erleichtert aus. Annie blickt verwirrt von Wisdom zu mir und ihr Blick bleibt bei Memory hängen. Ich halte den Atem an, mit der Angst vor einem erneuten Zusammenbruch meiner Mentorin. Doch Annie geht entschlossen auf das kleine Mädchen zu, nimmt ihren Arm und führt sie sanft in ihr Zimmer. Dann winkt sie und bedeutet uns so, ihr zu folgen. Als ich ihr Zimmer betrete, macht sich ein komisches Gefühl in mir breit. Es sieht genauso aus wie mein Raum, was mir klar werden lässt, das wir ab sofort in Gefangenschaft sind. Wir haben weder Privatsphäre noch irgendetwas, was uns daran erinnern wird, wer wir eigentlich sind. Hier sind alle gleich.

"Heaven, hol bitte den Verbandskasten aus dem Bad. Wisdom, ich brauche etwas, womit ich ihre Wunden reinigen kann." Wir nicken gleichzeitig und laufen ins Bad. Wisdom hantiert am Waschbecken, während ich auf der anderen Seite des Raumes einen Schrank öffne und darin nach einem Verbandskasten suche. Eigentlich könnten wir direkt die Ärzte informieren und die Wunden des Mädchens wären in null komma nichts geheilt, doch glücklicher Weise haben sie hier für den Notfall etwas verstaut. Als ich gefunden habe, wonach ich suchte, renne ich zurück. Wisdom hat sich einen Stuhl ans Bett gezogen und Memory liegt auf dem Bett. Annie sitzt neben ihr und tupft ihr mit einem Handtuch sanft das Blut aus dem Gesicht. Ich bemerke, dass Memory aufgehört hat zu schluchzen. "Was ist passiert?", fragt Annie sie leise. Auch ich ziehe mir jetzt schnell einen Stuhl an das Bett und lausche den Worten meiner Mittributin. "Ich... Ich..." Ich merke, dass ihr das Atmen schwer fällt und sehe sie besorgt an. Ihr Blick wandert zu mir und sie sieht mir direkt in die Augen. Ich kann dem nicht standhalten und wende den Blick nervös ab.

"Ich wollte zu Heaven", sagt sie schließlich. Überrascht hebe ich den Kopf und Memory spricht weiter. "Also ich wollte zu Heaven, weil ich solche Angst habe und habe meine Betreuerin beim Abendessen gefragt, ob ich zu ihr hier hoch fahren darf...sie hat nein gesagt. Daraufhin habe ich mich dann rausgeschlichen, als ich dachte, alle würden schlafen." Sie legt eine Pause ein. Das, was sie jetzt erzählen wird, wird nicht schön sein. Ich schließe die Augen und merke, wie mir ein kalter Schauer über den Rücken läuft. Woher hat sie die Verletzungen? Angespannt lausche ich ihren Worten.

"Sie hat mich erwischt, als ich auf den Aufzug gewartet habe. Dann hat sie die Friedenswächter gerufen, die mir das hier...", sie zeigt auf ihr Gesicht. "...angetan haben. Weil ich eine Schwester besuchen wollte." Ich schlucke. Dass ich der Grund für ihre Verletzungen bin, behagt mich gar nicht. Es ist ja verdammt süß, dass sie mich als Schwester sieht, aber sie sollte eigentlich wissen, dass mit den Hungerspielen nicht zu spaßen ist. Zögernd versuche ich etwas zu sagen. Zuerst entweicht kein Laut meiner Kehle, doch als ich das erste Wort laut und deutlich gesagt habe, starren mich alle an. "...gefährlich. Memory du musst schnell wieder nach unten und so tun, als sei nichts gewesen. Es ist wirklich süß, dass du mich besuchen wolltest und ich freue mich wirklich darüber, aber tu' dir selber einen Gefallen und bring dich nicht noch einmal in einesolche Gefahr." Sie schüttelt energisch den Kopf und ich blicke sie verdutzt an. "Ich kann jetzt nicht darunter. Ich will nicht, bitte Heav..."

Just in diesem Augenblick wird die Tür aufgerissen und eine grotesk aussehende Frau stürmt herein, begleitet von zwei Friedenswächtern. Memory schreit auf, ich springe hoch und stelle mich den dreien in den Weg. Die Frau muss Memorys Betreuerin sein. Auch Annie ist aufgestanden und redet seelenruhig auf die Frau ein, doch diese schüttelt aufgebracht den Kopf und quiekt etwas. Das, was dann passiert, nehme ich nur wie durch einen Schleier wahr. Die Friedenswächter stoßen mich beiseite und schlagen Annie bewusstlos, dann ziehen sie Wisdom vom Bett weg, der jetzt Memorys einziger Schutz war. Das Mädchen hält sich schützend die Arme vor den Kopf, doch einer der beiden Männer zieht sie alles andere als sanft hoch und stellt sie auf ihre Füße. Ich spüre den Adrenalinrausch und im nächsten Moment erwischt mich etwas hart am Kopf und ich lande auf dem Boden. Ich krieche beiseite und merke, wie mir langsam das Blut von der Stirn rinnt. Aus dem Augenwinkel nehme ich noch wahr, wie die Frau vor Freude laut aufheult, dann verschwimmt mir die Sicht. Das letzte, was ich - noch einigermaßen bei Bewusstsein -wahrnehme, sind die nachhallenden Schläge und Memorys letzter erstickter Schrei, dann höre, sehe und fühle ich nichts mehr.


Die Tribute von Panem - Die Rache der DistrikteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt