Heaven - Teil 1

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Noch einmal betrachte ich das Kapitol von dem Dach des Waisenhauses aus, schaue blinzelnd in die Mittagssonne. Dann klettere ich über das Geländer und springe ohne zu zögern. Ein paar Sekunden freier Fall, dann schlage ich hart auf dem Boden auf. Ich höre einen Schrei, bei dem ich nicht weiß, ob es sich um meinen eigenen handelt, dann spüre ich einen stechenden Schmerz. Kurz darauf wird alles schwarz und der Schmerz verschwindet so abrupt, wie er gekommen ist. Als ich wieder zu mir komme, habe ich zunächst Angst, meine Augen zu öffnen. Was, wenn es schon wieder nicht geklappt hat? Wenn ich nicht endlich im Totenreich angelangt bin? Irgendwann muss es doch mal funktionieren.

Zögerlich öffne ich nun doch meine Augen. Um mich herum ist alles schneeweiß. Ich werde von dem grellen Licht geblendet. Ist das der Himmel? Ja, das muss er sein. Wo sonst kann ich nach meinem Selbstmordversuch nun sein, wenn ich dieses Mal nicht auf der Straße vor dem Haus liege? Als ich mich genauer umschaue, erkenne ich, wie eine weiße Gestalt auf mich zukommt. Unverkennbar ein Engel! Ich erkenne sofort die weißen Engelsschwingen, die goldenen Haare und die blutroten Augen. Moment mal, was? Blutrote Augen? Das ist kein Engel, aber was ist es dann? Ich versuche mich auf allen vieren Rückwärts von der Gestalt zu entfernen, doch ich treffe augenblicklich auf eine Wand. Verdammt, was jetzt? Ich betrachte das Wesen genauer. Nun, da es nicht mehr weit von mir entfernt ist, kann ich mehr erkennen. Es hat die Zähne gefletscht und das Gesicht zu einer fiesen Grimasse verzogen. Aus seinem Mund fließt Blut, ob es sein eigenes ist vermag ich nicht zu sagen. Es rinnt an seinem Kinn herab und färbt den weißen Boden gesprenkelt rot. Ein kalter Schauer lässt mich erzittern. Ob ich Angst habe? Ja natürlich. Doch nicht vor dem Tod. Es ist eher die Tatsache, dass ich wohl immer noch nicht tot bin, die mir Angst einjagt. Und was das Wesen mit mir machen wird. Wo bin ich? Was mache ich hier? Wie komme ich hier wieder weg? Diese Fragen schießen mir durch den Kopf, während die Gestalt, das Monster, immer näher kommt. Es ist jetzt nur noch wenige Meter entfernt. Regungslos verharre ich hier in meiner Falle und warte ab. Mein Herz pocht immer schneller; Was wird passieren, wenn mich die Gestalt erreicht hat? Dann ist es so weit. Einen halben Meter vor mir hält die Gestalt inne, dann reißt sie den Mund auf und stürzt sich auf mich. Panisch fange ich an zu schreien. Wieder wird alles schwarz und ich verliere das Bewusstsein.

„Heaven. Heaven wach auf!" Ich schlage die Augen auf und blicke geradewegs in das hellgelbe Gesicht meiner besten Freundin Story. Sie grinst mich an, dann schüttelt sie den Kopf und lacht über mich. „Du wolltest dich wirklich schon wieder umbringen? Du weißt doch, dass es unmöglich ist!" „Pscht, schrei doch nicht so", fahre ich sie an. Doch sie grinst nur noch breiter. „Komm steh auf, oder willst du hier auf der Straße Wurzeln schlagen? Wir müssen gleich los, du weißt schon die Rebellen haben gesiegt und so weiter" - sie macht mit einer Geste deutlich, was sie davon hält- "und möchten eine Ankündigung machen." Ich lasse mir von ihr hoch helfen und folge ihr schweigend zurück ins Waisenhaus. Hier lebe ich zusammen mit 9 anderen Jugendlichen. Wir sind alle während der Rebellion hierhergekommen. Story und ich lebten in Distrikt 12, wollten jedoch fliehen. Leider haben wir da die Rechnung ohne das Kapitol gemacht. Im Wald wurden wir von einer Gruppe Kapitolsvögel abgefangen, unsere jetzigen Leiter des Waisenhauses. Sie hätten uns töten oder uns die Zunge herausschneiden können, aber nein, sie haben etwas viel schlimmeres mit uns gemacht. Genexperimente. Das Resultat? Bunte Haut und Haare und wie in meinem Fall, Unsterblichkeit. Jeder von uns hat nun eine neue Hautfarbe und eine neue Haarfarbe. Dazu kommen ein neuer Name und eine neue Geschichte. Niemand hier ist noch er selbst. Ich heiße Heaven. Keiner hier kennt meinen richtigen Namen, doch ich kann mich nicht an den neuen Namen gewöhnen. Mir wird mein wahrer Name immer im Gedächtnis bleiben, mein altes, wundervolles Leben. Doch es wird nie wieder so sein wie früher, dafür hat das Kapitol schon gesorgt. Meine Haut schimmert nun rosa, meine Haare pink. Meine Eltern wurden getötet und ich werde sie nie wieder sehen. Ob ich dieses Leben führen möchte? Die Antwort ist ein klares nein. Doch ich habe keine Wahl. Ich bin unsterblich. Wie oft habe ich schon versucht mein Leben zu beenden? Irgendwann habe ich aufgehört zu zählen. Als ich mich das aller erste Mal vom Dach gestürzt habe, wieder zu mir gekommen bin und mir sämtliche Gliedmaßen weh taten, habe ich gedacht, ich hätte den Sturz aus Zufall überlebt. Doch bis heute habe ich mich schon unzählige Male erstochen, erschossen und ertränkt, aber nie habe ich den Himmel zu Gesicht bekommen. Ich vermag nicht zu sagen, was zum Teufel das gerade war. Ein Traum? Eine Vision? Ich kenne die Antwort nicht.

Als wir unser Zimmer erreicht haben, lasse ich mich seufzend auf meinem Bett nieder. Doch Story lässt mich nicht, sie nimmt mich am Arm und zieht mich wieder hoch. „Komm schon du Faulpelz, zieh dich um und komm, in 5 Minuten treffen wir uns unten mit den anderen. Du willst doch nicht die nächsten zwei Wochen Küchendienst schieben, nur weil du keine Lust hattest pünktlich zu erscheinen?" Ich verdrehe die Augen. Für Story ist das ganze Leben ein einziger Witz, es gibt so gut wie nichts, was ihr den Tag trüben könnte. Man sieht sie den ganzen Tag mit einem breiten Grinsen durch das Haus laufen. Ich habe echt überhaupt keine Lust auf diese blöde Versammlung, zumal ich mir gerade ein dutzend Blutergüsse und ein Engeltrauma zugezogen habe. doch meine Freundin hat Recht. Wenn wir zu spät kommen, werden wir wieder bestraft und das ist nun wirklich das letzte, was ich jetzt will. Also ziehe ich mir schnell was anderes an. Dann schlüpfe ich in die Schuhe und verlasse zusammen mit Story das Zimmer. Im Eingangsbereich warten die anderen bereits. Cecilia, unsere Betreuerin, wirft uns einen bösen Blick zu. „Nun da wir endlich alle vollständig sind, können wir ja gehen." Also machen wir uns auf den Weg.

Dort steht Katniss. Der Spotttölpel. Meine frühere Freundin. Ich bin mir sicher, dass sie mich hier nicht wiedererkennen wird. Nicht so, wie ich jetzt aussehe. Traurig schaue ich zu Boden. Mir ist es eigentlich ziemlich egal, was sie verkünden wird. Es wird bestimmt wieder irgendetwas wichtiges sein. Auch sie hat nun ein neues Leben, sie fühlt sich sicherlich sehr mächtig, sehr erwachsen. Zwar habe ich gehört, dass sie viele Freunde und ihre Schwester verloren hat, doch die Rebellen haben gewonnen und das ist bestimmt genau das, was sie wollte. Hat sie nur ein einziges Mal an mich gedacht? Hat sie sich nur ein einziges Mal gefragt, was aus mir geworden ist? Denkt sie etwa, ich sei tot? Ich, die ihr die Brosche gegeben hat? Ich, ohne die sie niemals zum Spotttölpel geworden wäre? Wie aus weiter Ferne nehme ich ihre Stimme war. Erst, als ich das Wort „Hungerspiele" höre, horche ich auf und versuche mich an das zu erinnern, was sie gerade gesagt hat. Wie war das? Sie wollen die Kinder des Kapitols in die Arena schicken? Ich brauche eine Sekunde, bis ich realisiere, dass auch ich dazu gehöre. Mein Name wird wieder in die Lostrommel wandern.

Die Tribute von Panem - Die Rache der DistrikteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt