𝐊𝐚𝐩𝐢𝐭𝐞𝐥 𝟓𝟒

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Ruslana

Das erste was ich spürte, als ich langsam zu mir kam, war mein pochender Kopf. Ich blinzelte ein paar Mal und stöhnte erschöpft auf. Wo war ich? Das letzte an das ich mich erinnern kann, ist wie ich in mein Auto gestiegen bin. Danach bin ich jemandem gefolgt. Aber wem? Mein Blick glitt durch das Zimmer und meine Augen wurden kugelrund.

Oh mein Gott.

Abrupt setzte ich mich auf und starrte die gegenüberliegende Wand wie benommen an. Alles kam auf einmal auf mich zu. Das Blut. Die Schreie. Das Betteln. Und...Nico. Der, der dem Mann das angetan hat. Ein mulmiges Gefühl machte sich in mir breit und ich spürte wie sich eine ekelhafte Gänsehaut auf meiner Haut ausbreitete. Ich bin gerannt. Durch den Wald. Er war hinter mir. Und plötzlich fand er mich. Danach wurde alles schwarz.

Ich schaute an mir runter und schluckte. Wer hatte mich umgezogen? Ich trug eine lockere Jogginghose, die in meiner Größe sein muss und ein einfaches weißes T-shirt.

Ich muss von hier verschwinden.

Ich stand von dem Bett auf und bemerkte wie alles um mich rum anfing sich zu bewegen. Schnell hielt ich mich an der Wand fest, um mich vor dem Umfallen zu bewahren. Als ich mir sicher war, dass mein Kopf sich abgeregt hat, stellte ich mich wieder gerade hin und ging mit schwitzenden Händen auf die Tür zu. Leise öffnete ich sie und verzog das Gesicht, als es laut quietschte.

Mit vorsichtigen Schritten betrat ich den Flur und ließ die Tür leise hinter mir ins Schloss fallen. Ich schluckte und blickte mich leicht überfordert um. Das ist ein echt großer Flur. Mit so viel Adrenalin in mir, dass es mich beinahe umhaute, ging ich auf die Treppe zu und lief mit Zehenspitzen runter. Das letzte was ich wollte war, dass man mich hörte. Ich kam in einer Art Eingangshalle an und suchte verzweifelt nach einem Ausgang. Wo war denn die Tür? War ich hier nicht schon mal? Es war so, als hätte ich alle meine Erinnerungen verloren.

„Und wohin willst du, Printsessa?", seine kalte Stimme hinter mir brachte mich zum Aufzucken. Sofort wirbelte ich herum und stolperte leicht nach hinten. Seine müden Augen trafen auf meine und ich spürte wie mein Herz anfing wie verrückt zu hämmern. Er ging einen Schritt auf mich zu, doch blieb stehen, als er meine Angst bemerkte. Sein Kiefer spannte sich an und seine Hände ballten sich zu Fäusten. So viel Trauer und Reue blitzte in seinen Augen auf, doch ich rührte mich nicht von der Stelle.

Er schwankte leicht und hielt sich mit viel Aufwand auf den Beinen. War er etwa betrunken?

Mein Blick schweifte in das Wohnzimmer, dass mit der Eingangshalle verbunden war. Ich konnte eine halbausgetrunkene Wodka Flasche ausmachen, die auf dem Tisch stand. Wie viel hat er getrunken? Meine Brust ging auf und ab und ich spürte wie die Panik in mir immer größer wurde. „Du hast schon wieder Angst vor mir, oder?", flüsterte er und blickte mich traurig an. Meine Lippen blieben versiegelt und ich kämpfte gegen die aufkommenden Tränen an. Er nickte wie benommen und ging auf die Couch zu, um sich mit einem müden Brummen nieder zu lassen.

Seine Reaktion tat mir weh. Er wirkte so fertig. Doch ich sollte kein Mitgefühl verspüren. Oder?

Er griff nach dem gefüllten Glas und führte es zu seinen Lippen. Sein Hemd war aufgeknöpft, während seine Ärmel hochgekrempelt waren. Wie lange war ich bewusstlos? Wie viel hat er getrunken? Mein Blick wanderte durch das Wohnzimmer und blieb bei der Decke hängen, die unordentlich auf der Couch lag. Hatte er etwa hier geschlafen?

„Setz dich", sprach er leise und deutete auf die Stelle neben sich. Mit vorsichtigen Schritten ging ich auf die Couch zu, die gegenüber von ihm stand und ließ mich langsam nieder. Seine Augen verdunkelten sich in Trauer, doch er sagte nichts dazu. Stattdessen ließ er seinen Kopf nach hinten fallen und starrte die Decke an. „Du hasst mich", flüsterte er und lächelte leicht. Doch das Lächeln war alles andere als fröhlich.

Ich blieb stumm sitzen und wendete den Blick ab. Was sollte ich auch sagen?

„Willst du?", fragte er und schaute mich wieder an. Als ich verwirrt mit der Stirn runzelte, deutete er mit einem einfach Nicken auf die Wodka Flache und ich schüttelte den Kopf. „Ich trinke nicht", flüsterte ich in die Dunkelheit hinein. Seine Augen trafen wieder auf meine und ein kleines Lächeln legte sich auf seine Lippen.

„Natürlich tust du das nicht", sagte er leise und blickte mich verträumt an, bevor seine Gesichtszüge wieder etwas ernster wurden. „Frag alles was du willst", sagte er und lehnte sich zurück. Er konnte seine Augen kaum aufbehalten. Ich lehnte mich vor und nahm ihm das Glas Wodka aus der Hand, bevor ich es außer Reichweite auf den Tisch stellte. Amüsiert schaute er mir dabei zu und ließ mich einfach machen.

Ich seufzte auf und setzte mich wieder richtig hin, bevor ich seinen Blick erwiderte. „Wie kann dir sowas nicht weh tun?", fragte ich ihn flüsternd, während ich versuchte meine Gefühle nicht preis zu geben. „Der Mann. Er hatte eine Familie. Wie konntest du nur?", fragte ich ihn fassungslos. Bereute er es denn garnicht?

Müde seufzte er auf und schaute weg, um in die Leere zu starren. Seine Blick wirkte distanziert und die Verwirrung in mir wurde immer größer.

„Ich wurde nicht anders erzogen, Ruslana", sprach er so leise, dass es mich eine Sekunde dauerte, die Information zu bearbeiten. „Während andere Kinder ihre Kindheit damit verbrachten mit Puppen oder Autos zu spielen, wurde mir beigebracht, wie man mit einer Waffe umgeht."

Mein Herz zerbrach in Stücke.

„Wenn ich mal nicht gehorchte, dann wurde ich bestraft", sprach er weiter und ich versuchte den dicken Klos in meinem Hals runterzuschlucken. Bestraft? Wie bestraft? „Als Kind habe ich mich oft gewehrt, doch mit der Zeit wurden die Bestrafungen schlimmer, also hatte ich keine andere Wahl als das zu tun, was er von mir wollte", seine Stimme wurde mit jedem Wort leiser. Meine Augen brannten und ich biss die Zähne zusammen, um nicht ineinander zu fallen. Das alles wurde ihm angetan? Sprach er von seinem Vater?

„Und mit der Zeit...", sprach er und machte eine kleine Pause. „Wurde ich zu dem Monster, dass ich jetzt bin."

Das war das erste Mal, dass ich jemanden anderen sah, als den großen mächtigen Nico Sidorov.

Ich sah einen kleinen Jungen, der in der falschen Welt aufgewachsen ist und keine andere Wahl hatte.

𝐏𝐬𝐲𝐜𝐡𝐨 ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt