Der Moment, in dem mein Wecker mich aus dem Bett scheuchte, kam schneller, als erhofft. Mein Kopf schmerzte, wie jeden Tag, seit Keylas Unfall und ich brauchte gar nicht erst in den Spiegel sehen, um zu wissen, dass ich dunkle Ringe unter den Augen hatte. Ich hatte sowenig Lust auf die Schule, wie auch an jedem anderen Wochentag. Trotzdem quälte ich mich zu meinem riesigen Kleiderschrank und schlürfte mit den Klamotten in mein eigenes Bad, das an mein Zimmer angrenzte. Im Vorbeigehen hob ich noch schnell das heruntergefallene Notizbuch auf, immer noch erstaunt darüber, wie es auf den Bodengelangt war. Ich war schnell fertig, denn seit dem Vorfall verschwendete ich keine Zeit mehr für Makeup. Außerdem hatte ich mir angewöhnt nur noch schwarz zu tragen, weshalb ich schließlich in schwarzen Jeans und einem schwarzen Pulli aus dem Bad kam. Ich trat zu meiner Kommode, um die Ketteanzulegen, die ich einst von Keyla bekommen hatte und jeden Tag trug.
"Du willst doch nicht ernsthaft so aus dem Haus gehen", ertönte hinter mir eine belustigte Stimme. Erschrocken fuhr ich herum und wich an die Wand zurück. Auf meinem großen Sofa lag ein Mann, den ich noch nie gesehen hatte und auf dessen Gesicht sich jetzt ehrliches Erstaunen zeigte.
"Wer bist du?", fragte ich zitternd. "Und wie kommst du hier rein." Ich tastete über die Kommodeneben mir, auf der Suche nach irgendeiner Waffe.
In seinen rubinroten Augen funkelte es belustigt. "Du kannst mich sehen."
"Natürlich kann ich dich sehen! Wer. Bist. Du?" Wie konnte es sein, dass ich ihn zuvor nicht bemerkt hatte.
Er stützte sich mit den Ellbogen auf seinen Knien ab. "Ich bin tot", erklärte er nüchtern.
Ich bekam ein dickes Buch zu fassen. "Auf mich wirkst du aber sehr lebendig." Ich versuchte noch weiter zurückzuweichen, doch ich hatte die Wand im Rücken.
"Ich wirke also auf dich nicht irgendwie seltsam?" Er hob fragend eine dunkle Augenbraue.
Ich musterte ihn skeptisch. Abgesehen von den silberweißen Haaren, den stechend roten Augen und dem übermenschlich schönen Gesicht wirkte er auf mich ganz normal. Er trug ein schwarzes Hemd und eine schwarze Cargohose. "Nein, es sei denn du meinst die roten Augen."
Er funkelte mich amüsiert an. "Nein, ich meine nicht die roten Augen."
"Also, was willst du hier?", ich hatte es langsam satt meine Fragen zu wiederholen, aber er schien den Ernst der Lage nicht ganz zu verstehen.
"Du hast darum gebeten, dass dir jemand antwortet. Hier bin ich." Er verdeutlichte seine Worte mit einer umfassenden Geste.
Langsam fielen mir meine Worte von gestern Abend wieder ein, aber das war unmöglich, es konnte nicht sein, dass es tatsächlich funktioniert hatte. Er bemerkte wohl die Skepsis in meinen Augen, denn er erhob sich von meinem Sofa und schlenderte zur Tür. Als er sich mir näherte, zögerte ich nicht lange und schleuderte das Buch auf ihn. Doch es flog einfach durch ihn hindurch!? Er nahm es unbeeindruckt zur Kenntnis.
"Komm mit, ich beweise es dir." Und ohne abzuwarten, ob ich ihm folgte ging er durch die Tür. Durch die Tür! Durch die geschlossene Tür! Ich schnappte nach Luft, eilte dann aber hinter ihm her. Meine Eltern saßen im Esszimmer beim Frühstücken. Und dort fand ich auch ihn. Als ich den Raum betrat begrüßten mich meine Eltern mit einem herzlichen "Guten Morgen", schenkten dem Fremden allerdings keinerlei Aufmerksamkeit. Er grinste mich vielsagend an. Ich stellte mich direkt neben ihn, um so vielleicht die Blicke meiner Eltern auf ihn zu lenken. Aber sie blickten mich nur fragend an. Das hatte keinen Sinn!
"Ich muss dann jetzt zur Schule", erklärte ich schnell und ging zurück in mein Zimmer, wo ich mir meine Schuhe anzog und meine Tasche holte.
"Ich habe es dir doch gesagt." Seine kühle Stimme hatte einen belustigten Unterton. Aufgebracht fuhr ich zu ihm herum. "Was beweist mir denn, dass ich mir dich nicht bloß einbilde?"
Er wirkte nachdenklich. "Ebenso gut könntest du für mich eine Einbildung sein. Ich wünsche mir schon lange jemanden, mit dem ich mich unterhalten kann. Hier ist sonst niemand."
Irgendwie hatte er recht. Aber trotzdem... "Wer hat gesagt, dass ich dieser jemand sein möchte?" Meine Stimme drohte zu brechen. Ich wollte doch nur ein normales Leben führen und endlich mit meiner Trauer abschließen können.
"Du wolltest eine Antwort und du hast sie bekommen!" Er spielte wieder auf den gestrigen Abend an.
"Aber ich wollte keine Antwort von dir!" Tränender Verzweiflung stiegen in meinen Augen auf. Er konnte das schwarze Loch in meinem Herzen, das seit Keylas Tod versuchte mich zu verschlingen, nicht heilen. Das konnte nur sie. Ich schulterte meine Tasche und wollte mich auf den Weg zum Bus machen, als er mich erneut aufhielt.
"Du willst also wirklich so rausgehen?"
Meine Nerven lagen blank. Ohne mich ihm zuzuwenden fragte ich: "Wieso?"
"Du hast eine tolle Figur und ziehst einen Pullover an, in den du drei Mal reinpasst?"
Ich drehte mich zu ihm um und funkelte ihn wütend an. "Was geht dich das an!" Damit verließ ich mein Zimmer und schlug die Tür hinter mir zu. Welche Dreistigkeit erlaubte der sich eigentlich?!Es war schon schlimm genug, dass er einfach in meinem Haus auftauchte!
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Ghost Whispers
RomanceRayn hat den wichtigsten Menschen in ihrem Leben verloren: ihre beste Freundin. Zu ihren Eltern hat sie ein distanziertes Verhältnis, weshalb ihr nur ihre Freundin wirklich wichtig gewesen war. Doch Rayn will nicht einfach aufgeben, will nicht ohne...