Kapitel 9

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"Revanchieren?", hakte ich erstaunt nach und hob eine Augenbraue.

„Ja, du hast gesagt, du willst mich kennenlernen und Zeit mit mir verbringen." Er machte eine bedeutungsvolle Pause. „Und das ehrt mich. Deshalb bin jetzt ich an der Reihe."

Ich verschränke die Arme vor der Brust und starrte ihn weiterhin skeptisch an.

Silen hob abwehrend die Hände. „Es tut mir leid, dass ich dich und deinen Freund gestört habe, aber ich war allein."

„Er ist nicht mein Freund", schob ich schnell ein und wusste nicht genau warum ich das sagte, oder es überhaupt für wichtig hielt. Um schnellstmöglich abzulenken ergänzte ich: „Schon okay. Das Windspiel mit den Blättern war sehr schön."

Ein kleines Funkeln trat in seine Augen und ließ ihn von Innen erstrahlen.

„Also morgen. Wo soll's hingehen?"

Ein schelmisches Grinsen zupfte an seinen Lippen, als er mich mit seinem Blick fixierte. „Ich denke, das wirst du früh genug erfahren."

Seufzend wandte ich mich ab und ging ins Badezimmer, um mich bettfertig zu machen. In meinem kurzen Nachthemd kam ich wieder heraus und wollte mich gleich ins Bett begeben, als ich Silen am Schreibtisch sitzen sah, wie er mich beobachtete. Er lächelte nicht. Und auch sonst zeigte sein Gesicht keine Regung. Ich konnte die Gefühle in seinem Blick nicht deuten. Das helle Mondlicht in seinem Rücken, ließ seine Haare silbern schimmern und warf eine Aura um ihn herum. Ich erstarrte in der Bewegung und konnte meine Augen nicht von ihm abwenden. Wie er dort saß, so still und mysteriös, in Schatten gehüllt, konnte man die Magie, die ihn zeichnete nicht mehr leugnen, von seinem unwirklichen Äußeren mal abgesehen. Das Bild entstand ohne mein Zutun in meinen Gedanken. Ich würde diesen Moment zeichnen, konnte die Bewegungen, die meine Hände machen würden schon fast spüren. Doch was bedeutete sein durchdringender Blick, mit dem er mich fixierte? Ich musste mich zusammenreißen, um nicht an mir herunterzusehen. Mit flauem Gefühl im Magen riss ich mich aus meiner Starre und zog so schnell, wie nur möglich die Bettdecke über meinen Körper und drehte mich auf die Seite, weg von ihm. Doch ich wusste, dass sein Blick weiterhin auf mir lag. Irgendwann fiel ich trotz der Anspannung in meinem Inneren in einen tiefen Schlaf.

Ein Glücksgefühl breitet sich in mir aus. Als ich sie auf mich zukommen sehe. Doch dann ... ist es weg. Wie ausgewischt. Ein erschütternder Schrecken zerrt an mir. Ich bin wie erstarrt. Gefesselt, gefangen, gelähmt. Die Welt dreht sich in Zeitlupe. Ich sehe das Weiß. Doch dann ist es nicht mehr weiß. Es ist rot. Rot befleckt und bespritzt. Ebenso wie die weiße Wand dahinter, die mir erscheint wie eine Leinwand. Ein stechender Schmerz breitet sich in meinem ganzen Körper aus. Es tut so weh. Alles. Ich will schreien, doch alles ist still, stumm. Ich habe sie verloren. Verloren, verloren, verloren. Der Schmerz wird von Taubheit abgelöst. Ein Schauer nach dem anderen jagt mir über den Körper. Ich spüre die Gänsehaut, die mich wegen dieser Eiseskälte überzieht. Alles ist so kalt. So fürchterlich, schrecklich kalt. Und ich will schreien, doch meine Kehle ist zugeschnürt. Ich zittere. Meine Beine sollten laufen, doch stattdessen geben sie nach. Den Aufschlag auf den harten Boden spüre ich nicht. Auch die heißen Tränen, die mir über die Wange laufen fühlen sich eiskalt an. Etwas weiches prallt in mein Gesicht. Ich greife danach, doch meine Hände werden nur nass von den Tränen. Erneut erfolgt ein Aufprall ...

und ich schreckte zitternd zusammen. Ich schob das Kissen von meinem Gesicht. Dunkelheit umgab mich. Wo war ich? Vor meinem inneren Auge blitzten weiße und rote Sprenkel auf. Alles war still. Doch dann drangen leise Geräusche an meine Ohren.

„Rayn!"

Etwas schob sich in mein Blickfeld. Ich zuckte zusammen und mein Herz setzte einen Schlag aus. Weiß und rot! Weiß und rot! Nein! Ich rang um Luft. Es war silbern und rubinrot.

„Rayn, beruhige dich!"

Ich schluckte, ich atmete. Dann wischte ich mir mit den Händen über mein nasses Gesicht.

„Es war nur ein Traum. Nur ein Traum."

Mein Körper bebte immer noch. „Nein, war es nicht", sagte ich mit kratziger Stimme. „Es war eine Erinnerung."

Silens sorgenvoller Blick wandte sich nicht von mir ab. „Keyla?"

Ich nickte. Der Klang ihres Namens rief nicht nur die Erinnerung zurück, sondern auch den Schmerz. Und die Kälte. Fröstelnd schlang ich die Arme um meinen Körper.

„Mit Wind konnte ich dich nicht aufwecken, also habe ich dir ein Kissen ins Gesicht geweht", erklärte Silen sanft.

Obwohl ich schweißgebadet war zog ich mir die Decke bis zum Kinn. Ein warmer Luftzug wehte mir um die Nase, er roch nach ... Schießpulver, das wusste ich jetzt. Tatsächlich wurde mir etwas wärmer, wenn auch weniger wegen des Windes, als wegen der Geste, die darin steckte. Ich raffte alle Gefühle und Erinnerungen des Traums zusammen und sperrte sie hinter die schwarze Tür in meinem Geist. Dann rollte ich mich wieder ein und versuchte an rein gar nichts zu denken. Silen setzte sich auf die Bettkante und sah mich sanft an. Ich konzentrierte mich auf das Funkeln seiner Augen und auf die kleinen schwarzen Striche in zwischen dem rubinrot und weinrot. In meinem Kopf zählte ich jeden Rotton auf, den ich in seinen Iriden erkennen konnte, bis ich schließlich wieder einschlief. Und er blieb, bis dahin.

Als ich am nächsten Morgen in den Spiegel blickte hatte ich rote Ringe unter den Augen, welche ich geflissentlich ignorierte. Beim Verlassen des Badezimmers entdeckte ich Silen wie gewohnt auf dem Sofa. Er war nicht da gewesen, als ich aufgewacht war.

„Du siehst fürchterlich aus", begrüßte er mich mit einem höhnischen Grinsen.

„Dir auch einen guten Morgen", entgegnete ich nüchtern. Nach einer kalten Dusche ging es mir zwar gefühlstechnisch besser, aber körperlich nicht wirklich. Ich seufzte, als ich meine Hände in die Taschen meines schwarzen Pullovers schob. „Danke, dass ... du mich aufgeweckt hast."

Silens Blick wurde ernst. „Du hast um dich geschlagen."

Seine Erklärung war gleichzeitig auch ein Geständnis, das mir nicht entging. „Du warst hier? Warum?"

Er zuckte mit den Schulter. „Wo sollte ich sonst sein? Ich habe nur dich."

Die nackte Wahrheit seiner Worte versetzte mir einen Stich. Es stimmte, er hatte nur mich. Und ich ... ich hatte nur ihn. Nur ihn, dem ich alles anvertrauen konnte, der wirklich wusste, wie es in mir aussah. Meine Augen begannen zu brennen, doch ich hatte keine Tränen mehr übrig.

Silen musterte mich abwartend, doch ich wollte nicht näher darauf eingehen. „Wann können wir los?"

Er warf einen kurzen Blick auf die Uhr. „Von mir aus gleich, aber willst du zuvor nicht noch etwas essen?"

„Kein Hunger", erwiderte ich knapp, seinen sorgenvollen Blick ignorierend.

Eine halbe Stunde später hatten wir nach einem schweigenden Fußmarsch den Stadtrand im Westen erreicht. Wir verließen die Straße und erklommen abseits davon einen kleinen Hügel. Oben angekommen erkannte ich, dass die Straße unter uns eine Biegung machte und um den Hügel herumführte. Um uns herum und am Hang hinunter standen ein paar Bäume und mehrere Büsche.

„Nicht nur du hast schlechte Erinnerungen", murmelte Silen abwesend. Sein Blick lag auf der abknickenden Straße.

„Ist sie schlimmer, als die Erinnerung zu sterben?", fragte ich vorsichtig.

Er sah mich nicht an, schob nur die Hände in die Taschen. „Nein, nichts ist so schlimm, wie das kalte Gefühl, des Todes." Ich trat etwas näher zu ihm, wollte stummen Beistand leisten, so wie er es für mich getan hatte. „Aber hier hat sich der Grund ergeben, dass ich sterben sollte. Hier habe ich zum ersten Mal mein Ziel verfehlt und damit nicht nur ein unschuldiges Mädchen getötet, sondern auch noch mich selbst."

Ich hob meine Hand, mit der Handfläche nach oben. Silen verstand die Geste und legte seine Hand auf meine. Keiner von uns konnte die Berührung des anderen spüren, doch es war ein Trost für uns beide. Zumindest physisch spürte ich ihn nicht, aber mein Herz fühlte unseren Kontakt.

„Ach, Rayn."

Ich sah ihn abwartend an. Doch er sagte nichts mehr, schwelgte in Erinnerungen. „Ich bin da", flüsterte ich und endlich wandte er sich mir zu, bedachte mich mit einem tiefen Blick.

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