Kapitel 12

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Es war hell. Zu hell. Vorsichtig öffnete ich meine Augen, bereute es aber sogleich. Ein Sonnenstrahl hatte mich geweckt und blendete mich nun. Stöhnend rollte ich mich auf den Rücken. Wie spät es wohl schon war? Ich liebte es, am Wochenende lange schlafen zu können, aber langsam begann mein Magen zu knurren. Vielleicht war es sogar schon Mittag. Also schlug ich seufzend die Bettdecke zurück und zog mich aus dem Bett.

Als ich im Bad fertig war ging ich zu meinem Bücherregal und zog wie schon die ganze Woche über ein beliebiges Buch heraus und legte es aufgeschlagen auf den Tisch vor meinem Sofa. Kurz fragte ich mich, warum Silen noch nicht hier war, doch ich konnte ohnehin nichts daran ändern. Also schlich ich so leise wie möglich nach vorne in die Küche. Meine Eltern waren glücklicherweise nirgends zu sehen. An einem Samstagmorgen fuhren sie meistens einkaufen und ich musste mir nicht anhören, dass ich den halben Tag verschlafen hatte, oder dass ich doch mal an die frische Luft gehen sollte. Der dunkle Holzboden unter meinen Füßen wurde stellenweise von der Sonne beleuchtet und war somit angenehm warm. Ich ging um die Kochinsel herum und nahm mir einen Apfel aus der Obstschale, welchen ich dann mit einem Messer aufschnitt. Auch hierbei hätte mich meine Mutter ermahnt ich solle doch ein Schneidebrett unterlegen, was mir allerdings meistens egal war. Mit dem geschnittenen Apfel in einer Schüssel verließ ich unsere moderne Küche und verzog mich zurück in mein Zimmer. Dort schlug ich in Ruhe meinen Zeichenblock auf und begann zu malen. Zwischendurch biss ich von einem roten Apfelstück ab, das herrlich süß schmeckte und sehr saftig war. Mit dem Bleistift skizzierte ich zuerst die Umrisse und die Schatten. Die Sonnenstrahlen, die durch den Vorhang direkt auf mein Blatt fielen, spielten mit den gezeichneten Linien. Obwohl es draußen so warm aussah wusste ich, dass es bitterkalt war. Ein leichter Nebel lag noch über dem Garten vor meinem Fenster. Ich nahm meinen Kohlestift in die Hand und malte damit die Silhouette. Es sollte das Bild werden, das sich vor einer Woche in meinen Verstand gebrannt hatte, das mich erst loslassen würde, sobald es fertig auf dem Papier war. Die Silhouette wurde immer dunkler und dunkler, bis sie schließlich völlig schwarz war. Ich blendete die Kanten aus und es wirkte, als wäre die Gestalt von einem magischen Schimmern umgeben. Im Hintergrund malte ich ein Fenster, von welchem das Mondlicht hereinfiel.

Als ich fertig war schlug ich meinen Zeichenblock, welcher inzwischen voll von geisterhaften Wesen war, wieder zu. Silen war immer noch nicht da und langsam machte ich mir sogar Sorgen. War es wegen unserem Streit gestern? Ich schnappte mir die leere Schüssel, in der der Apfel war und trug sie nach vorne in die Küche. Drei Stunden hatte ich für die Zeichnung gebraucht und nun waren auch meine Eltern wieder da.

„Guten Morgen", begrüßte mich meine Mutter gewohnt fröhlich.

Ich warf einen kurzen Blick auf die Uhr, es war schon nach Mittag, und murmelte dann: „Ebenfalls."

„Weißt du, Rayn, du könntest auch mal etwas früher aufstehen und mit uns zum Einkaufen fahren."

Oh verdammt, jetzt ging das wieder los. Ich seufzte. „Ich habe in der Zeit gemalt."

Meine Mutter räumte weiter ungerührt ihre Einkäufe in der Küche auf. „Aber das ist doch keine Beschäftigung. Irgendwann ziehst du aus, dann musst du selbst einkaufen. Besser du lernst es gleich."

Zu behaupten, dass wir diese Diskussion jede Woche führten war nicht übertrieben. „Willst du mich etwa rauswerfen?"

Sie warf mir einen erschrockenen Blick zu. „Aber nein! Ich meine doch nur, je früher du es lernst, desto besser."

Ich zuckte mit den Schultern und stellte die Schüssel ins Spülbecken. „Was kann schon dabei sein."

„Du unterschätzt das alles ein wenig, meine Liebe." Meine Mutter deutete auf die leere Schüssel. „Die zum Beispiel könntest du gleich abspülen, dann liegt sie da nicht so rum."

Also nahm ich die Schüssel wieder in die Hand, öffnete die Geschirrspülmaschine und legte sie neben eine andere Schüssel.

Mom seufzte. „Wie ich dich kenne, kannst du die nicht mal einschalten."

Ich zog eine Schublade auf, holte die Gebrauchsanleitung der Spülmaschine heraus und hielt sie ihr unter die Nase. „Ich bin mir sicher das steht da drin."

Sie rümpfte die Nase. „Es würde dir trotzdem nicht schaden mal etwas mit der Hand abzuspülen."

„Soll ich auch gleich die Wäsche waschen?", fragte ich sarkastisch.

„Schlecht wäre das nicht."

Ich wollte gerade gehen, da schlich sich ein gemeines Grinsen über meine Lippen. „Ich habe mir gestern ein Altersheim angesehen. Es ist direkt in der Stadtmitte. Die Pflegerinnen waren sehr nett und es war wirklich schön und modern eingerichtet."

Meine Mutter versteifte sich. „Was willst du damit sagen?"

„Naja, du wirst schließlich auch mal alt und wer soll sich dann um dich kümmern? Ich kann nicht kochen, nicht abspülen, keine Wäsche waschen. Nicht mal einkaufen kann ich. Und von diesem Altersheim aus musst du nur vor die Tür gehen und kannst gleich shoppen. Du wärst mitten in der Stadt." Ich warf ihr einen vielsagenden Blick zu.

„Das meinst du doch nicht ernst?" Sie starrte mich irritiert an. „Du kannst mich doch nicht in ein Altersheim stecken."

„Warum nicht? Nette Leute, freundliches Personal und schöne Umgebung, was will man mehr?" Plötzlich ertönte ein kehliges, tiefes Lachen hinter mir. Ich musste mich zusammenreißen, mich nicht umzudrehen.

Meine Mutter schnaubte. „Das kannst du doch nicht..."

„Oh doch, ich kann", unterbrach ich sie. Silen hinter mir prustete los. Beinahe hätte ich auch angefangen zu lachen, bei der Grimasse, die meine Mutter schnitt.

Dann wandte ich mich ab, ohne auf eine Antwort von ihr zu warten. Das war der Grund, warum ich froh war, wenn meine Eltern mal nicht Zuhause waren. In meinem Zimmer hing Silen schon auf dem Sofa, als ich hereinkam. Ein freches Grinsen auf den Lippen.

„Ich wusste gar nicht, dass du so gemein sein kannst." Seine Augen funkelten.

„Ich habe das Gefühl, dass ich zum ersten Mal seit langem wieder ich selbst sein konnte", erklärte ich.

Silen hob eine dunkle Augenbraue. „Warst du gestern wirklich in einem Altersheim?"

Verdammt, das hätte er nicht hören sollen. Ich schluckte. „Ja, tatsächlich war ich das."

Sein Grinsen erstarb. Natürlich war er nicht auf den Kopf gefallen. „Warum?" Silens Stimme war rau, fast brüchig.

„Ich... habe jemanden besucht", gestand ich kleinlaut.

„Ach ja? Und wen?" Sein kalter Blick fixierte mich.

Ich atmete einmal tief durch. Jetzt würde ich es ohnehin nicht mehr leugnen können. „Hellen Ryder. Ich habe Hellen Ryder besucht."

Zorn verzog Silens schönes Gesicht und seine Augen begannen zu glänzen. „Warum."

Ich warf die Hände in die Luft. „Ich weiß auch nicht, Silen. Ich will dich kennenlernen. Und nicht nur dich sondern auch deine Vergangenheit. Wer du bist und wer du warst. Und außerdem wollte ich dir einen Gefallen tun, wollte das tun, was du nicht mehr tun konntest."

Sein Gesichtsausdruck verriet mir, dass er mich am liebsten angeschrien hätte. Doch stattdessen schluckte er seine Wut hinunter und fragte vorsichtig: „Wie war sie?"

Mir fiel ein Stein vom Herzen. Die Situation war nicht optimal, aber besser als erwartet. „Sie war sehr nett, sie hat mir einen Tee gemacht und wir haben uns unterhalten." Ich wartete kurz ab und sprach dann weiter. „Ich habe ihr alles erzählt, Silen. Dass ich dich sehen kann, wie wir uns kennengelernt haben. Und sie hat mir geglaubt, weil sie dich kennt und dich so in Erinnerung hat, wie ich dich beschrieben habe."

Silen hatte den Blick von mir abgewandt und in die Ferne gerichtet.

„Sie hat mich gebeten, sie wieder zu besuchen. Und das werde ich tun", erklärte ich entschlossen. „Egal, was du sagst."

Langsam sah er mir wieder in die Augen. „Okay."

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