Heute war der erste Tag, an dem sich schon der kommende Frühling erahnen ließ. Der Schnee war an den meisten Stellen geschmolzen und der Boden darunter wieder trocken. Die Sonne wurde ausnahmsweise nicht von Wolken verdeckt und sandte somit ein warmes Licht durch den Wald. Irgendwie war die Lichtung nahe des Waldrands zu unserem Stammplatz geworden, wenn es darum ging, dass uns niemand erwischen durfte. Etwas tiefer im Wald war die Stelle, an der ich meine Klamotten verbrannt und anschließend vergraben hatte. Die Beweise, die meinen Mord aufdecken hätten können. Äußerlich war die Stelle nicht zu erkennen, doch es fühlte sich an, als würde sie mich mit dunklen Krallen zu sich ziehen. Aber damit hatte ich abgeschlossen. Ich versuchte jetzt nicht mehr die Schuldgefühle zu unterdrücken, sondern akzeptierte und nutzte sie um den Gedanken an Keyla zu entkommen. Aus diesem Grund waren wir jetzt auch hier. Ich brauchte diese Ablenkung in meinem Kopf und wollte mehr davon. Durch all die Ereignisse in den letzten Tagen war dieses Vorhaben in den Hintergrund gerutscht. Aber jetzt wollte ich nicht mehr länger warten.
Silen stand mir gegenüber und grinste mich schelmisch an. Wie ein Raubtier seine Beute.
„Hör auf mich anzusehen, als wäre ich dein nächstes Opfer."
Sein Grinsen wurde nur noch breiter. „Du ahnst gar nicht, wie viel Freude es mir bereitet, dass du mich gebeten hast dich zu trainieren."
Ich verdrehte die Augen. „Du sollst mich trainieren und nicht foltern."
„Gut, dann kommen wir gleich zur ersten Lektion."
Ich sah ihn abwartend an. Doch dann trat er blitzschnell an meine Seite, hakte sein Bein hinter meins und gab mir dann einen Stoß an die Schulter. Ich versuchte die Bewegung auszugleichen, doch sein Fuß blockierte mich und ich knallte rückwärts auf den harten Waldboden. Stöhnend versuchte ich den Schmerz in meinem Rücken zu verdrängen.
„Erste Lektion: Gleichgewicht." Silen blickte mit einem schiefen Grinsen auf mich hinunter.
Ich sah ihn böse an und kämpfte mich so elegant wie möglich wieder auf die Beine.
„Wir beginnen damit, dass ich dich immer wieder schubse und du versuchst stehen zu bleiben. Dein Gleichgewicht ist das Wichtigste. Denn egal mit was du deinen Gegner letztendlich tötest, er wird immer versuchen dich aus dem Gleichgewicht zu bringen, weil das die Schwachstelle der Meisten ist."
Wäre ich ein Scharfschütze, dann bräuchte ich das alles gar nicht, doch ich hatte Silen gebeten mir auch die Nahkampftechniken zu zeigen. Für den Fall der Fälle. Schließlich lagen noch ein paar seiner Pistolen und Dolche bei mir Zuhause. Und ich würde sie nutzen, das stand fest.
Die nächsten Stunden verbrachten wir also damit, dass ich versuchte einen stabilen Stand zu erlangen und Silen mir dann einen Stoß gegen die Schulter versetzte. Ab und zu versuchte er auch mir ein Bein wegzutreten, was ich dann mit der anderen Seite ausgleichen sollte. Allerdings landete ich mehr als einmal auf dem Boden. Nach dem Training tat mir jeder einzelne Knochen in meinem Körper weh und meine Klamotten waren von oben bis unten mit Erde und vertrockneten Nadeln beschmutzt. Silen schien das ganze einen riesen Spaß zu machen, denn er lachte mich jedes Mal aus, wenn ich erneut am Boden landete. Ich hatte deshalb des Öfteren versucht auf ihn loszugehen, doch er hatte gekonnt jeden Schlag abgeblockt.
Als ich um Atem ringend und schweißgebadet an einem Baumstamm lehnte erklärte ich das Training für beendet.
„Das war noch nicht mal richtiges Training", meinte Silen mit hochgezogener Augenbraue.
„Ich weiß, dass ich keine Kondition habe. Du musst mich nicht daran erinnern." Ich zog die dünne, durchgeschwitzte Jacke aus, obwohl ich darunter nur ein äußerst kurzes Sport Top trug.
Silen ließ seinen hungrigen Blick über meinen Körper wandern.
„Vergiss es", ermahnte ich ihn, worauf er nur mit den Schultern zuckte. Seit wir uns berühren konnten war da etwas zwischen uns. Und damit meinte ich nicht die heißen Küsse oder die Nähe, die wir zueinander suchten. Da war etwas viel größeres, das ich nicht zu benennen wagte.
Silen schien zu wissen, woran ich dachte, denn er kam auf mich zu und nahm meine Hand in seine. Er betrachtete unsere Hände, als könnte er es immer noch nicht glauben, obwohl es nun schon seit einigen Tagen so war. Doch diese Tage waren nicht verglichen mit den Jahren, in denen er nichts und niemanden hatte berühren können. Silen führte meine Hand an seine Lippen und hauchte einen zarten Kuss darauf.
„Wärst du nicht so ein Egoist, könnte man dich glatt als charmant bezeichnen", meinte ich, während mein Herz schneller zu pochen begann.
Silen zwinkerte mir zu. „Wer sagt, dass ich nicht beides sein kann."
Ich stieß mich von dem Baum ab, damit wir uns auf den Rückweg machen konnten. Silen legte sogleich einen Arm um meine Schultern und zog mich an sich. Wärme breitete sich in mir aus und ein angenehmes Kribbeln überzog meine Haut.
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Ghost Whispers
RomansaRayn hat den wichtigsten Menschen in ihrem Leben verloren: ihre beste Freundin. Zu ihren Eltern hat sie ein distanziertes Verhältnis, weshalb ihr nur ihre Freundin wirklich wichtig gewesen war. Doch Rayn will nicht einfach aufgeben, will nicht ohne...