Kapitel 13

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Die Wochen zogen vorbei, wie auch der Herbst vorbeizog. Die bunten Blätter der Bäume färbten sich letztendlich braun, so wie sie es jedes Jahr taten. Dann ließen sie die Äste los und segelten in einem tanzenden Rhythmus zu Boden, wo sie schließlich von den Menschen zu Haufen gekehrt, oder von den Autos durch die Luft gewirbelt wurden. Bei einem Sparziergang knirschte es bei jedem Schritt und die Luft war angenehm frisch. Mittlerweile brauchte man immer eine dicke Jacke, wenn man vor die Tür ging. Bei jedem Atemzug stiegen kleine Wölkchen in den grauen Himmel. Sonnenschein wurde immer seltener. Mir gefiel der Herbst. Ob wegen seiner Vielfältigkeit oder wegen der realistischen Darstellung von Vergänglichkeit. Denn die Zeit verging. Die Wochen vergingen und die Monate vergingen. Dylan und ich verbrachten regelmäßig Zeit miteinander und auch wenn es keiner von uns ausgesprochen hatte waren wir wohl anscheinend ein Paar. Und ich musste ehrlicherweise zugeben, dass ich in mehreren Augenblicken wirklich glücklich war. Dylan brachte mich zum Lachen, lenkte mich von der Realität ab. Ich fand erstmals nach dem Unfall wieder in einen normalen Lebensrhythmus. Natürlich zehrte der Verlust meiner besten Freundin noch immer an mir und es gab nicht einen Moment, in dem ich nicht an sie denken musste. Ich dachte an sie, wenn mir vor Lachen die Tränen kamen, weil wir uns immer gegenseitig zum Lachen gebracht hatten. Ich dachte an sie, wenn ich alleine vor einem leeren Blatt Papier saß, weil wir immer zusammen gemalt hatten. Und ich dachte in jedem anderen Moment an sie, weil ich nie alleine war. Ich war nie ohne sie gewesen. Bis jetzt. Jetzt war Silen an meiner Seite. Zumindest wann immer ich nicht bei Dylan oder in der Schule war. Er hielt sich zwar weitestgehend aus meinem Leben raus, war aber immer da. Dass ich bei seiner Mutter war und ihr alles erzählt hatte, raubte ihm ebenfalls einiges an Zeit. Silen war zwar geblieben und hatte jeden Tag die Bücher gelesen, die ich ihm jeden Morgen aufschlug, aber geredet hatte er nicht mehr mit mir. Zwei Wochen lang war das so gegangen, dann würdigte er mich wieder eines Blickes, allerdings schnitt keiner von uns das Thema erneut an. Ich hatte in letzter Zeit sogar meine schulischen Leistungen aufbessern können, ganz zur Freude meiner Eltern. Während sich also morgens immer mehr Frost an Grashalmen und Blättern absetzte, gab ich vor ein völlig normaler Mensch zu sein, obwohl ich jeden Tag mit einem Geist sprach und nach fast einem Jahr immer noch versuchte meine verstorbene Freundin zurückzuholen.

Zitternd schob ich mir meinen Schal weiter übers Gesicht. Die kalte Luft brannte beim Atmen in meiner Lunge. Meine Glieder fühlten sich schon längst wie eingefroren an. Doch endlich erreichte ich das große hellblaue Gebäude. Die Glastüren quietschten, als sie sich öffneten. Ms. Rodrigo lächelte mich ebenso freundlich an, wie bei meinem ersten Besuch.

„Was kann ich für Sie tun?", begrüßte sie mich vorschriftsgemäß. Anscheinend erinnerte sie sich nicht an mich.

„Ich möchte Mrs. Ryder besuchen." Ich hauchte warme Luft in meine Hände und rieb sie aneinander, damit sie schneller warm wurden.

Die blonde Frau zeigte auf die Sitzgruppe. „Bitte warten Sie bis..."

„Ich weiß, in welchem Raum sie ist", unterbrach ich sie freundlich.

Sie hob entschuldigend die Hände. „Sie müssen leider von einer Pflegerin begleitet werden."

Ich nickte und setzte mich auf einen der Stühle. Nach ein paar Minuten kam auch schon eine, in weiß gekleidete Pflegerin mit kurzen roten Haaren auf mich zu. Mrs. Pella schien sich an mich zu erinnern, denn über ihr ernstes Gesicht zuckte ein kurzes Lächeln.

„Die Freundin von dem verstorbenen Sohn, richtig?" Ihre rauchige Stimme klang so monoton, wie beim letzten Mal.

„Ja, genau die." Ich schenkte ihr ein höfliches Lächeln und folgte ihr wieder die Treppen hinauf.

„Hellen hat in letzter Zeit oft nach dir gefragt." Ich sah sie erstaunt an, doch sie erwiderte den Blick nicht. „Zumindest nehme ich an, dass du Rayn bist."

„Ja, jetzt bin ich ja hier." Wegen Mrs. Pellas kühler Art wusste ich nicht, was ich sonst sagen sollte.

Ghost WhispersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt