Meine Augen begannen zu brennen. Ich war so nah dran. Und doch hatte ich keine Chance sie zu retten. Obwohl... Der Herbstwind, der mir gerade noch so bitterkalt erschienen war wurde jetzt beinahe harmlos. Ich schluckte den Kloß in meinem Hals hinunter. Mit den Händen in den Jackentaschen beschleunigte ich meine Schritte. Ich hatte wieder ein Ziel vor Augen.
Silen fragte mich auf dem Weg nach Hause ein paar Mal, was bloß in mich gefahren sei, doch ich blockte ihn jedes Mal ab. In meinem Zimmer angekommen eilte ich in mein Badezimmer und schloss die Tür hinter mir ab. Ich wusste, dass Silen mich nie bis ins Bad verfolgte, er hatte immerhin Respekt vor meiner Privatsphäre. Genau das nutzte ich jetzt aus.
Noch nie hatte ich mich so leer und voller Hoffnung zugleich gefühlt. Ich rief mir wieder all die Dinge ins Gedächtnis, die seit dem Tod meiner Freundin nicht mehr dieselben waren. Ich dachte an alles Düstere. Und zum ersten Mal lenkte ich meine Gedanken absichtlich zurück zu dem Unfall. Vor meinem inneren Auge tauchte Keylas strahlendes Lächeln auf, ihre glänzenden, kaffeebraunen Augen, ihre karamellbraune, makellose Haut, ihre langen, glatten haselnussbraunen Haare. Und dann das weiße Auto, dessen Motorhaube mit rotem Blut bespritzt war.
Ich ging zu dem Spiegelschrank an der Wand und holte meine Nagelschere heraus. Damit setzte ich mich mit dem Rücken an die Badewanne gelehnt auf den Boden. Endlich würde ich Keyla wiedersehen. Ich würde sie umarmen und mit ihr reden können. Also klappte ich die Schere auseinander und setzte die Spitze an die Innenseite meines Handgelenks an. Langsam begann ich anzudrücken. Der Schmerz flutete durch meinen Körper und erinnerte mich daran, wie lebendig ich war. Noch. Ich führte die scharfe Spitze näher an meine Adern heran. Die Welt um mich herum blendete ich aus, auch die ganzen unbeantworteten Fragen.
„Stopp!"
Vor Schreck fiel mir die Schere aus der Hand und auf den Boden. Silen stand vor der geschlossenen Tür und sah mich mit erschrockenem Blick an.
„Was zur Hölle tust du da?!" Er war wütend, keine Frage. Aber das hier ging ihn nichts an, es war mein Leben.
„Ich gehe zu Keyla", erklärte ich selbstbewusst.
Silen schüttelte den Kopf. „Du weißt nicht, ob das funktioniert. Außerdem hast du noch ein wundervolles Leben vor dir, das kannst du nicht einfach wegwerfen."
„Doch! Das kann ich!" Ich bot ihm mit lauter Stimme die Stirn. „Ich will kein Leben ohne Keyla, das ist es nicht wert."
Silens Blick wurde traurig. „Doch, ein Leben ist es immer wert gelebt zu werden. Denk an deine Eltern. Denk an Dylan. Und denk an all das, was noch kommen wird."
Er sah mich eindringlich an und ging dann vor mir in die Hocke. „Ich wünschte ich hätte mein Leben leben können."
Ein Stich fuhr mir ins Herz. Sein Leben war ungewollt beendet worden.
„Und ich wünschte ich hätte eine zweite Chance, denn ich würde alles anders machen. Aber das versteht man erst, wenn es zu spät ist."
Meine Augen begannen zu brennen, bei der tiefen Bedeutung, die seine Worte hatten.
„Du weißt nicht, ob du Keyla finden wirst", fuhr er fort. „Du könntest auch in meiner Welt landen, oder du kommst in die andere Welt und bist einfach weg. Das weiß niemand." Silen streckte vorsichtig seine Hand aus und ich wusste er würde mir am liebsten das Blut vom Handgelenk wischen, doch er konnte nicht.
„Also bitte", er fixierte mich mit seinem Blick, „leb dein Leben zu Ende, genieße es. Dann kannst du immer noch zu deiner Freundin gehen."
Eine Träne stahl sich aus meinem Augenwinkel und erst jetzt spürte ich den Schmerz, der meine Hand erfasst hatte. Schniefend sprang ich auf und ließ kaltes Wasser über die Wunde laufen.
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Ghost Whispers
RomanceRayn hat den wichtigsten Menschen in ihrem Leben verloren: ihre beste Freundin. Zu ihren Eltern hat sie ein distanziertes Verhältnis, weshalb ihr nur ihre Freundin wirklich wichtig gewesen war. Doch Rayn will nicht einfach aufgeben, will nicht ohne...