Kapitel 32

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Ich schlug die Augen wieder auf und über mir war immer noch der blaue Himmel. Ich erhob mich und sah Silen neben meinem Körper auf dem Boden knien. War ich etwa schon tot oder noch in der Zwischenphase? Mein Herz begann zu rasen und mir wurde speiübel. Auf meiner Brust prangte ein dunkles Loch und unter meinem Körper breitete sich eine riesige Blutlache aus.

„Silen", flüsterte ich, doch er reagierte nicht. Ich musste machtlos zusehen, wie er meinen leblosen Körper hochhob und ihn die Treppe runter trug. In der Tür lag Kraoffs durchlöcherte Leiche.

Unten wartete schon ein Rettungswagen. Hatte er den gerufen, als ich bewusstlos gewesen war? Ich wollte gar nicht daran denken, welche Risiken Silen damit einging. Er konnte anhand des Blutes auf seiner Kleidung - und damit meinte ich nicht meins - wegen Mordes verhaftet werden. Schließlich lagen auf dem Dach noch drei Leichen. Mit blinkenden Blaulichtern fuhr der Krankenwagen davon. Verdammt, wie kam ich jetzt ins Krankenhaus? Ich konzentrierte mich darauf, wie das Krankenhaus von innen aussah und als ich die Augen wieder öffnete stand ich tatsächlich im Eingangsbereich. Ich suchte mit rasendem Puls das ganze Gebäude nach Silen und meinem Körper ab, was ziemlich lange dauerte. Schließlich fand ich mich auf der Intensivstation. Das Gerät neben dem Bett piepste langsam. Doch es piepste. Silen mit Tränen in den Augen neben mir zu sehen brach mir das Herz. Er hielt meine Hand und flüsterte immer wieder, dass alles gut werden würde. Die Tür wurde aufgerissen und herein kamen meine völlig aufgelösten Eltern.

Eine Krankenschwester kam ihnen leise hinterhergeschlichen und bemerkte sanft: „Die Kugel konnten wir entfernen. Alles weitere müssen wir abwarten."

Meine Mutter schluchzte und griff nach meiner Hand. Mein ganzer Körper wurde eiskalt, als ich begriff, das ich ihr Berührung vielleicht nie wieder spüren konnte. Eine heiße Träne lief mir über die Wange und ich ließ mich kraftlos zu Boden fallen. Dann sah ich Silen und meinen Eltern beim Trauern zu, dir sich gegenseitig versuchten zu beruhigen. Doch ich konnte nichts tun, konnte ihnen nicht helfen. Ich war machtlos. Ein Schluchzen drang aus meiner zugeschnürten Kehle. Gerade als ich mit Silen ein normales Leben beginnen wollte, war mir alles genommen worden. Doch was ich zuletzt zu ihm gesagt hatte, hatte ich auch so gemeint. Ich hoffte nur er würde die Chance auch nutzen. Auch ohne mir, fügte ich stumm hinzu.

Doch warum konnte mich Silen nicht sehen? Warum redete er nicht mit mir? Selbst als meine Eltern nach Hause geschickt worden waren und ich ihn wieder und wieder anbrüllte, mich anzusehen, blieb er stumm. Er hielt immer nur meine schlaffe Hand und betrachtete mein Gesicht.

*

Am nächsten Tag hatte sich nichts an meinem Zustand geändert. Ich lag immer noch im Koma und Silen konnte mich immer noch nicht sehen. Vormittags verschwand er kurz, doch ich konnte ihm nicht folgen, weil ich das Gefühl hatte auf meinen Körper aufpassen zu müssen. Als er ein paar Stunden später wiederkam, nahm er wieder seinen Platz im Sessel ein und griff nach meiner Hand.

„Ich weiß nicht, ob du mich hören kannst", meinte Silen leise. „Oder ob du vielleicht als Geist hinter mir stehst. Aber ich war gerade bei Gundula. Sie sagte, ich sei nicht offen genug, um Geister sehen zu können." Er lachte kurz auf. „Ist das nicht lächerlich? Ich war selbst schon in der Geisterwelt, aber bin nicht offen genug dafür, um selbst Geister sehen zu können."

„Das ist lächerlich", stimmte ich ihm zu, doch er reagierte nicht.

„Ich habe sie auch gefragt, wie ich dich zurückholen kann... falls du stirbst." Silen schluckte. „Sie hat gesagt, und ich zitiere: der Zauber der Liebe kann nur ein Mal gewirkt werden." Er schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht, was ich tun soll, Rayn. Ich hätte sterben sollen. Nicht du." Seine Stimme wurde brüchig. „Und ich konnte dir noch nicht einmal sagen, dass... dass ich dich auch liebe."

Mein Herz stolperte. Er liebte mich auch. Das war alles was ich hören wollte. Die Kälte in meinem Körper wurde augenblicklich von Wärme verdrängt. Das Gerät neben meinem Bett begann schneller zu piepsen und... hörte dann einfach auf. Mit angehaltenem Atem starrte ich auf die gerade Linie, die sich darauf zeigte.

„Nein, nein, nein." Silen sprang auf und nahm mein schlafendes Gesicht in seine Hände. „Bitte, Rayn. Lass mich nicht alleine. Nimm meinem Leben nicht den Sinn."

Ich sprang auf die Beine und schrie. Ich schrie aus vollem Leibe. In der Hoffnung irgendjemand würde mich hören. Irgendjemand. Doch niemand versuchte mich aufzuhalten und so schrie ich bis ich keine Stimme mehr hatte. Die Ärzte hatten mein Zimmer gestürmt und Silen hinausgescheucht. Mit dem Defibrillator jagten sie mir Strom durch den Körper. Doch die Linie blieb ein gerader Strich. Mein Herz wurde unendlich schwer und ich begann zu weinen. Tränen rannen mir in Strömen übers Gesicht. Die Krankenschwestern begannen die Geräte wieder wegzupacken, während der Arzt das Zimmer verließ und Silen mit einem traurigen Kopfschütteln Empfang.

„Nein, ihr sollt nicht aufhören!", schrie ich ohne Stimme.

Silen kam ins Zimmer gestürmt, auf mich zu und schloss mich in seine Arme... ein letztes Mal. Und ich konnte nichts tun außer zuzusehen.

Es war vorbei. Doch Silen war am Leben, so wie ich es mir gewünscht hatte. Ich hatte ihm dieses Leben freiwillig geschenkt. Dass ich dich auch liebe. Aus diesen Worten zog ich so viel Kraft, wie ich nur konnte. Ich wollte es nicht sehen, wenn meine Eltern ankamen und sich verabschiedeten. Ich wollte es nicht sehen, wenn Silen in Trauer versank. Ich wollte das alles nicht sehen. Also hielt ich mich an seinen Worten fest... und ließ los.

Als ich nun meine von den Tränen nassen Augen öffnete war alles hell. Ich blinzelte. Meine Füße versanken im Sand. Sand? Meine Sicht wurde klarer und ich sah einen schneeweißen Strand vor mir, der in türkis blaues Wasser mündete und auf der anderen Seite von hohen Palmen umgeben war. Ich schluckte. War das der Himmel? Ich drehte mich um und sah schemenhaft eine Gestalt auf mich zu rennen. Gegen die Sonne erkannte ich nicht wer es war. Doch als die Frau fast bei mir war sah ich haselnussbraune Haare im Licht schimmern. Ich schluchzte und begann zu laufen. Wir fielen uns weinend in die Arme und hielten und gefühlt für Stunden aneinander fest.

Dann drückte ich Keyla sanft von mir und blickte in ihre kaffeebraunen Augen. „Bist du echt?", hauchte ich.

Sie nickte mit Tränen in den Augen. „Ich habe dich so vermisst, Rayn."

„Ich dich auch!" Ich zog sie wieder an mich.

„Was du gemacht hast, war dumm. Du hättest dich nicht opfern dürfen", wies mich meine beste Freundin zurecht.

„Du hast es gesehen?", fragte ich ungläubig.

Keyla nickte. „Ich habe immer über dich gewacht."

Wieder brannten Tränen in meinen Augen. „Ist das hier der Himmel?"

Keyla lachte. Wie sehr ich dieses Lachen doch vermisst hatte. „Ich würde es eher als Paradies bezeichnen. Es passt sich deinen Wünschen an und lässt nur die Menschen ein, die dir etwas bedeuten."

„Und ich kann das Leben von geliebten Menschen verfolgen?" Ich drehte mich um mich selbst und der Strand verwandelte sich vor meinen Augen in eine endlos scheinende Wiese. Ein paar Meter vor uns tauchte eine kleine Hütte auf.

„Ja, willst du es versuchen?" Keyla sah immer noch aus wie damals. Schimmernde, lange haselnussbraune Haare, karamellbraune Haut, kaffeebraune Augen und volle, geschwungene Lippen, die immer lächelten.

„Nein", flüsterte ich. „Dazu bin ich noch nicht bereit."

Meine Freundin nickte verstehend. „Dann lass uns jetzt nach Hause gehen." Sie zeigte auf die kleine Hütte.

„Eine Holzhütte?" Ich musste grinsen.

„Das Haus passt sich ebenfalls deinen Vorstellungen an."

All der Schmerz war von mir gefallen und ich fühlte mich tatsächlich, wie zuhause. Ich war endlich angekommen. Ich hatte viel verloren, doch ich hatte Silen, den ich liebte, eine zweite Chance geschenkt und ich hatte Keyla wiedergefunden. Ich war in der Anderswelt angekommen, wo ich auf meine Liebsten warten konnte.

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