Kapitel 19

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Ich schlug die Augen auf. Heute war es so weit. Heute würde sich zeigen, wie stark meine Nerven waren. Silen beobachtete mich skeptisch, sagte allerdings nichts, als ich ins Bad ging. Ich zog mir die schwarzen Klamotten an, die wir anschließend verbrennen würden. Schon jetzt schoss Adrenalin durch meine Adern. So schnell war ich noch nie aus dem Bad wieder herausgekommen. Ich holte das Gewehr aus seinem Versteck und hing mir die Tasche über die Schulter. Meine langen schwarzen Haare hatte ich zu einem einfachen Zopf zusammengebunden und unter der Jacke versteckt. Ich sah Silen abwartend an. Er nickte nur, worauf ich mich so unauffällig, wie nur möglich aus dem Haus schlich. Draußen war es eiskalt, doch ich biss die Zähne zusammen. Nebel sammelte sich über der Straße. Wir mussten zu Fuß gehen, da ein Bus möglicherweise eine Überwachungskamera enthielt. Somit dauerte der Weg über eine Stunde, doch das nahm ich in Kauf. Silen ging schweigend neben mir und bis wir uns versahen waren wir auch schon da. Wir hatten den Plan an die hundert Mal durchgesprochen, weshalb ich so selbstverständlich, wie möglich auf das Nachbarhaus zuhielt. Die Tür zum Treppenhaus war offen. Auf leisen Solen schlich ich die Stufen hinauf. Eine rostige Eisentür führte auf das flache Dach hinaus. Von hier oben hatte man eine perfekte Sicht in Rogers Wohnung. Obwohl seine Fenster längst eine Säuberung vertragen hätten können. Ich legte mich auf den Bauch und wurde so für alle anderen, die unten die Straße entlanggingen unsichtbar. Mit zitternden Fingern holte ich die Sniper aus ihrer Tasche. Ich versuchte mir einzureden, dass ich nicht vor Aufregung zitterte, sondern wegen der Kälte. Denn sowohl die Handschuhe, als auch die Jacke waren sehr dünn. Ich schob die Patronen ins Gewehr und machte es einsatzbereit. Dann legte ich mich auf die Lauer. Der Wind schnitt mir mit peitschenden Schlägen ins Gesicht. Mein Körper wurde steif. Die eisige Kälte des Betonbodens, auf dem ich lag drang durch meine Kleidung. Meine Zehen und Finger begannen zu kribbeln. Plötzlich nahm ich eine Bewegung in der Wohnung unter mir wahr. Rogers schlürfte ins Wohnzimmer und warf sich auf den von Motten zerfressenen Sessel vor dem Fernseher. Er setzte eine Bierflasche an seine Lippen und schüttete das stinkende Zeug in sich hinein. Ich legte meine vor Kälte taube Wange an die Waffe und sah durch das Zielfernrohr. Langsam und mit Bedacht richtete ich den roten Punkt auf Rogers Kopf aus. Es war nichts anderes als das Training in den letzten Wochen. Zielen, schießen. Zielen, schießen. Mehr war es nicht. Ich durfte nicht vergessen warum ich das machte. Es war als Vergeltung für all seine Opfer und deren Familien. Und es war für Keyla, für den Deal, den ich mit Silen geschlossen hatte. Ich zwang meine rasenden Gedanken zur Ruhe und fokussierte meinen Blick. Rogers saß völlig still in seinem Sessel. Er ahnte nicht, dass es das letzte war, was er in seinem Leben tat. Alles um mich herum wurde still, als ich langsam ausatmete und des Abzug Stück für Stück zu mir zog. Ein Ohrenbetäubender Knall hallte zwischen den dunklen Gassen wieder. Ich verharrte in meiner Position und blickte weiter durch das Zielfernrohr. Rogers hatte einen dunklen Punkt am Kopf und hinter ihm prangte ein großer roter Fleck an der Wand. Seine Augen waren geschlossen. Ich konnte mich nicht von dem schaurigen Anblick losreißen. Ich hatte ihn getötet. Ich hatte einen Menschen umgebracht.

„Rayn", riss Silen mich aus meinen Gedanken. „Lass uns verschwinden."

Ich versuchte meine steifen Muskeln zur Bewegung zu zwingen. Das Gewehr verschwand wieder in seiner Tasche und wir begannen den Abstieg. Jede Stufe war wie ein Messerstich in meinen Körper. Jeder Schritt verstärkte das Gefühl der Schuld, das ich nun nie mehr loswerden würde. Ich konzentrierte mich auf meine Atmung und auf die schmerzenden Bewegungen meiner Glieder. Wir betraten die Straße, auf der immer noch alles so still war, wie an jedem anderen Tag.

„Wir müssen die Waffe sofort in meine Wohnung zurückbringen", erklärte Silen, als wir die Gassen verließen. Seine Wohnung lag auf dem Weg, aber dennoch schrie mein Körper nach einem warmen Bad.

Wir schlichen in Silens alte Wohnung und ich ging wie automatisch zu dem lockeren Brett am Boden.

„Du musst das Gewehr zuerst noch säubern."

Ich tat wie geheißen und zog ein dafür angefertigtes Tuch aus einer Öffnung in der Tasche. Silen hatte mich in den vergangenen Tagen oft die Waffe putzen lassen, somit waren mir die Bewegungsabläufe durchaus vertraut und ich konnte mich darauf konzentrieren, anstatt auf die düsteren Gedanken, die schon auf mich warteten. Dann packte ich alles wieder säuberlich zusammen.

„Nimm das Tuch mit", wies mich Silen an.

Ich legte das lose Brett wieder an seinen Platz und schob das Tuch in meine Jackentasche. Nicht nur mein Körper war taub, sondern auch mein Innerstes, weshalb ich unfähig war auch nur ein Wort zu sagen.

Bei mir Zuhause zog ich mich um und raffte die schwarzen Klamotten zusammen. Endlich trug ich eine anständige Winterjacke und die Wärme kehrte langsam in meinen Körper zurück. Wir gingen in den Wald hinter dem Haus, wo ich ein Loch schaufelte und die Klamotten hineinwarf. Auch die Bewegung schenkte mir etwas Wärme. Dann zog ich ein Feuerzeug hervor und zündete den Klamottenhaufen an. Das Feuer war wie ein Segen. Am liebsten hätte ich mich direkt hineingelegt, wenn ich dann nicht jämmerlich verbrannt wäre. Doch meine Gedanken waren immer noch taub und langsam. Besser so, die Schuldgefühle würde noch früh genug Besitz von mir ergreifen. Als nur noch Asche in dem Loch lag schaufelte ich die Erde wieder hinein.

Endlich konnte ich das lang ersehnte, wärmende Bad nehmen. Silen sagte nichts mehr zu mir, vermutlich wusste er, wie es mir ging. Schließlich hatte es auch bei ihm ein erstes Mal gegeben. Einen ersten Mord. Denn das war es: ein Mord. Man konnte es sich so schön reden, wie man wollte, doch es würde trotzdem nie etwas anderes werden als das. Natürlich hatte ich Angst, dass irgendwann die Polizei vor meiner Tür stand, doch ich vertraute Silen. Er wusste, wie man in Situationen wie diesen handelte.

Die Wärme des Wassersschoss in meine eingefrorenen Glieder und vertrieb die kalten Gedanken.

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