An diesem Morgen tat ich etwas, das ich nur äußerst selten freiwillig tat. Ich schaltete das Radio in der Küche ein. Ich war nicht in der Küche, um mir Frühstück zu machen, denn mir war übel und ich hatte das Gefühl, mich von jedem Bissen übergeben zu müssen. Hatte ich es überhaupt verdient noch hier stehen und mir Gedanken über mein Frühstück machen zu dürfen? Vermutlich nicht. Aber ich hatte es definitiv verdient, dass mir so verdammt übel war. Irgendein alter Song aus den 80ern schallte aus dem Radio, was mich beinahe dazu veranlasst hätte es sofort wieder auszuschalten. Ich kannte das Lied und hatte eigentlich auch nichts dagegen, aber im Moment klang es mir einfach zu fröhlich. Ich sollte eigentlich in irgendeiner Ecke hocken und mich selbst bemitleiden, doch stattdessen stand ich hier und wartete auf die stündlichen Nachrichten. Meine Eltern waren wie jeden Sonntag auf einen Spaziergang unterwegs. Ich hätte mitgehen können, schließlich baten sie mich fast jedes Mal darum, doch ganz abgesehen von dem bitterkalten Wetter konnte ich ihr langweiliges Gerede über irgendwelche Nachbarn nicht ertragen. Überraschenderweise gab es jede Woche etwas Neues, weswegen es sich über unsere Nachbarn zu tratschen lohnte. Ich hasste es, wenn meine Eltern aus banalen Gründen über Leute aus der Straße herzogen, die eigentlich nett zu mir waren. Was interessierte mich ihr Privatleben? Doch vor allem mein Dad hatte es nötig sich darüber aufzuregen, wenn der Nachbar zwei Häuser weiter den Gehsteig vor seinem Haus nicht vom Schnee befreite. Dabei gab es doch viel schlimmere Dinge, als nicht schneezuschaufeln. Zum Beispiel jemanden umzubringen. Das war schlimmer. Ich war ab jetzt ein Mensch, über den man sich hinter meinem Rücken das Maul zerreißen konnte. Was würden meine Eltern wohl sagen, wenn sie wüssten, was ich getan hatte? Würden sie mich vor Wut anschreien? Oder würden sie nur den Kopf schütteln, unfähig etwas zu sagen? Würden sie mir überhaupt glauben? Wahrscheinlich nicht. Für sie war ich nur das arme, kleine Mädchen, das um ihre beste Freundin trauerte. Nicht die verrückte Psychopatin, die mit Geistern sprach und Menschen ermordete. Manchmal wünschte ich sie könnten sehen wer ich wirklich war, doch das würde alles nur noch schlimmer machen. Sie würden versuchen mich zu ändern, mich zu verbessern. Doch ich wollte niemand Besseres werden, ich war zufrieden mit mir. Auch wenn meine Taten nicht gerade glorreich waren, so hatte ich doch die richtigen Gründe dafür gehabt.
Da endlich! Endlich kamen die Nachrichten. Ich drehte das Radio lauter, damit ich die Sprecherin besser verstand. „Gestern Nachmittag wurde der lang gesuchte Serienmörder John Rogers tot in seiner Wohnung aufgefunden." Mein Herz begann zu rasen und ich hielt den Atem an. „Ein Nachbar habe einen lauten Knall und das Zerspringen einer Fensterscheibe gehört und daraufhin die Polizei gerufen, welche den Mann erschossen auffand." Verdammt ich hatte zwar einen Schalldämpfer benutzt, doch gegen das zerberstende Glas hatte ich nichts tun können. „Der Serienkiller war schon des Öfteren vor Gericht geführt worden, doch bisher hatte man ihm nichts nachweisen können. Vermutet wird, dass er wohl für 48 Morde in den vergangenen Jahren verantwortlich war. Somit sei Rogers' Mörder wohl zu danken, meinte der Polizeisprecher. Bisher ist noch nichts zu dem Täter bekannt."
Ich stieß den angehaltenen Atem erleichtert aus. Sie hatten noch keinen Hinweise gefunden. Das war gut! Ich schaltete das Radio wieder aus, drehte mich um und zuckte heftig zusammen. Silen stand hinter mir und musterte mich langsam. Ich versuchte meinen rasenden Puls wieder zu beruhigen. „Warum schleichst du dich so an?" Silen hob fragend die Hände. „Ja, ich weiß, du kannst nicht anders."
„Du weißt doch, dass sie dich niemals finden werden oder?" Er wies mit einem Nicken auf das Radio.
Eigentlich wusste ich das, aber dennoch hatte ich das Gefühl, jeden Moment konnte die Polizei an meine Tür klopfen. Ein Teil von mir fühlte sich sicher, ein anderer Teil würde sich auf ewig verfolgt fühlen. Ich nickte nur. „Hör zu, ich muss noch was erledigen", wechselte ich das Thema. „Und zwar allein."
DU LIEST GERADE
Ghost Whispers
RomanceRayn hat den wichtigsten Menschen in ihrem Leben verloren: ihre beste Freundin. Zu ihren Eltern hat sie ein distanziertes Verhältnis, weshalb ihr nur ihre Freundin wirklich wichtig gewesen war. Doch Rayn will nicht einfach aufgeben, will nicht ohne...