Kapitel 31

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In den nächsten Tagen entwickelten wir einen täglichen Rhythmus. Zuerst statteten wir Hellen einen Besuch ab und anschließend gingen wir auf die „Jagd". Wir hatten sogar Silens alten „toten Briefkasten" wieder zum Leben erweckt und bekamen inzwischen tatsächlich bezahlte Aufträge, die wir als Anubis und Anput annahmen. Allerdings führten wir nur die Aufträge aus, bei dessen Ziel es sich um einen Schwerverbrecher handelte. Allerdings bekamen wir mit dem Job auch Konkurrenz. Manchmal begegneten wir anderen Auftragskillern, so wie heute.

Ich duckte mich vor einem Schlag und durchbrach die Deckung meines Gegners, als ich wieder aufrecht stand. Er bekam meine Faust ins Gesicht und taumelte erschrocken zurück. Silen kämpfte neben mir gegen unseren zweiten Gegner, als plötzlich mein Handy klingelte.

„Übernimmst du mal kurz", rief ich meinem Freund zu. Dieser setzte gerade einen Treffer warf mir einen kurzen Blick über die Schulter zu.

Ich entfernte mich ein paar Meter, als Silen jetzt auch mein Gegenüber angriff. „Ja?", ging ich an mein Handy.

„Hallo Rayn, hier ist Callam", kam es zurück.

Ich runzelte die Stirn. Warum rief er mich an? Und woher hatte er überhaupt meine Nummer? „Was gibt's?"

„Ähm, der Anruf ist mir fast schon unangenehm, aber..." Er machte eine kurze Pause. „Deine Nummer habe ich übrigens von Hellen."

Ich warf einen kurzen Blick über die Schulter und erkannte, dass Silen damit klarkam, gegen zwei Gegner gleichzeitig zu kämpfen. „Komm auf den Punkt, Callam."

„Ja, richtig. Ich habe dir doch bei deinem Besuch von Josh erzählt. Und du hast mir gesagt, was mein Bruder früher beruflich gemacht hat..."

Ich drehte mich erneut zu den kämpfenden Männern um. Früher.

„...Und da habe ich mich gefragt, ob sein kürzlicher Tod wirklich Zufall war."

„Hilfst du mir mal bitte, Darling", rief Silen mir zu.

„Was soll es denn sonst gewesen sein?", entgegnete ich.

„Keine Ahnung, das wollte ich eben dich fragen." Callam klang gleichzeitig gefasst, aber auch unsicher.

„Hör zu, Callam. Dabei kann ich dir nicht weiterhelfen. Und ich habe es auch gerade ein wenig eilig." Ich verabschiedete mich kurz angebunden und steckte mein Handy wieder weg. Verdammt, er hatte ja so recht. Aber das musste er nicht erfahren.

Ich wehrte eine Faust ab, die ansonsten Silen getroffen hätte und grub dem Mann mein Knie in den Magen. Er kam aus dem Gleichgewicht, was ich nutzte, indem ich nach seinem Arm griff, ihn über meine Schulter rollte und auf den Boden warf. Ich ließ mich auf ihn fallen und bevor er reagieren konnte, rammte ich ihm mein Messer in den Hals. Gurgelnd griff er sich an die vor Blut sprudelnde Wunde und versuchte sie vergeblich zuzuhalten.

Ich zog mein Messer wieder heraus und wischte es kurz ab, bevor ich Silen zu Hilfe kam, der seinen Gegner schon längst hätte töten können, wenn ihm das Kämpfen nicht so einen Spaß machen würde. Er genoss es förmlich einen Schlag nach dem anderen einstecken zu müssen, jetzt da er es endlich wieder fühlte. Silen war in letzter Zeit noch draufgängerischer geworden, als er ohnehin schon war. Jetzt wirbelte er den Mann herum und hielt ihn im Würgegriff. Ich sah das als Aufforderung und rammte ihm mein Messer geradewegs ins Herz.

„Wir sind ein gutes Team", stellte Silen keuchend fest.

„Allerding."

Silen schlang einen Arm um meine Schultern und zog mich näher an sich, als wir auf die Tür zum Dach schlenderten, um das Gebäude zu verlassen.

Doch ehe wir die Metalltür erreichten schwang sie auch schon auf. Dahinter kam ein Mann zum Vorschein der vornehm gekleidet war. Zu vornehm. Zuerst war ich geschockt gewesen. Die Angst, wir wären erwischt worden war mir über den Rücken gekrochen, doch jetzt wurde sie von Skepsis verdrängt. Der große Mann trug einen langen schwarzen Mantel und einen Hut. Wer trug heutzutage noch einen Hut?

„Silen Ryder", bemerkte der Fremde mit einer unangenehmen tiefen Stimme. „Auch bekannt als Anubis." Sein Blick, aus wässrigen, von Falten umrandeten Augen wanderte zu mir. Eine Gänsehaut zog sich über meinen Nacken. „Dann musst du Anput sein."

Silen neben mir versteifte sich. Kannte er diesen Mann? „Kraoff", entgegnete er düster. Damit war meine Frage beantwortet.

„Ich dachte, ich wäre dich losgeworden, doch anscheinend bist du wie Unkraut: Es kommt immer wieder", erklärte der Fremde namens Kraoff und trat zu uns aufs Dach.

Silen versuchte mich hinter sich zu schieben, doch ich wollte mich nicht verstecken. „Ich hatte gehofft, du würdest längst unter der Erde liegen."

Der große Mann mit dem faltigen Gesicht zuckte mit den Schultern. „Meine besten Tage sind vorbei, aber in Rente gehe ich erst, wenn ich meinen größten Rivalen losgeworden bin." Sein Blick wurde stechend. „Dich."

Alles was jetzt folgte, passierte rasend schnell und doch wie in Zeitlupe. In meiner Kehle entstand ein stummer Schrei, als Kraoff eine versteckte Pistole aus seinem Mantel zog und sie auf Silen richtete. Er verschwendete keinen weiteren Moment und drückte ab. Doch auch ich ließ keinen weiteren Gedanken zu. Vor meinen Augen zogen all die wundervollen Momente vorbei, die ich mit Silen hatte. Und ich wusste nur noch, wie sehr ich ihn liebte, für etwas anderes war kein Platz mehr. Also tat ich das einzig richtige. Ich sprang. Ließ mich fallen. Die Welt drehte sich vor meinen Augen. Irgendwann folgte ein dumpfer Aufprall und ich sah nur noch den Himmel. Dann: Silen, der über mir stand, mit gezogener Waffe und feuerte. Einmal, Zweimal. Immer wieder. Ich hörte es nur noch knallen. Bis das Magazin leer war. Rot funkelnde Augen beugten sich über mich und hoben mich von dem kalten Boden hoch, den ich eigentlich gar nicht spürte. Aber ich wusste, dass er kalt sein sollte. Ich weinte, doch das wusste ich nur, weil meine Sicht verschwamm, denn ich spürte rein gar nichts mehr, außer dieses riesige, klaffende Loch in meiner Brust, das sich anfühlte, als hätte mir jemand das Herz herausgerissen. Ich blinzelte und das kostete mich eine Menge Energie.

„Rayn", flüstere Silen, der mich nun in seinen Armen hielt. „Was hast du nur gemacht?"

„Du wärst sonst tot", versuchte ich zu erklären, doch meine Stimme war brüchig.

„Ja", bestätigte er mit Tränen in den Augen. „Aber dann wärst du nicht..." Silen ließ seinen Blick über meinen Körper wandern. Erst jetzt fiel mir auf, dass er sich seine Kapuze und Maske vom Gesicht gezogen hatte. Weiße Strähnen fielen ihm über die roten Augen, die von den Tränen glänzten.

„Nein, Rayn, das ist falsch. Das ist alles so falsch. Ich sollte da liegen. Er wollte mich umbringen." Als Silen seine Hand hob, um mir eine Strähne aus dem Gesicht zu streichen, welches er ebenfalls von der Maske befreit hatte, waren seine Finger voller Blut. Meinem Blut. Verdammt, es stand nicht gut um mich.

„Silen, es ist okay", krächzte ich. „Du bist gerade erst wieder lebendig geworden. Du hast eine zweite Chance bekommen. Du sollst sie auch nutzen dürfen." Ich musste husten und in meinem Mund breitete sich ein metallischer Geschmack aus.

Silen schüttelte energisch den Kopf. „Ich habe schon vor langer Zeit abgeschlossen. Ich hätte längst tot sein sollen. Aber du hast noch dein ganzes Leben vor dir. Verdammt, allein ich bin daran schuld, dass du jetzt hier liegst."

„Es ist okay", wiederholte ich. „Ich wollte es so." Wieder musste ich husten. Die Ränder meines Blickfeldes wurden langsam dunkler. Ich sah ein letztes Mal in diese wunderschönen rubinroten Augen. „Ich liebe dich." Dann verschwand der Schmerz und mit ihm meine Sicht. Es wurde schwarz.

Ghost WhispersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt