Kapitel 2

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Während ich mit dem Bus zur Schule fuhr ging mir der fremde Mann nicht mehr aus dem Kopf. Würde er noch da sein, wenn ich nach Hause kam? Oder würde er sogar in der Schule aufkreuzen? Schließlich war er ein Geist, er konnte hingehen, wohin er wollte. Oder war doch nur alles eine Halluzination? Wünschte ich mir sosehr aus meiner Einsamkeit gerissen zu werden, dass ich mir schon imaginäre Menschenausdachte? Aber warum war es dann nicht meine Freundin, die ich sah, sondern irgendein kurioser Mann, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, mich auf die Palme zu bringen. Das ergab alles keinen Sinn. Er hatte recht, ich wirkte auf ihn genauso unrealistisch, wie er auf mich. Und ich hatte nacheiner Antwort verlangt, auch damit hatte er recht. Aber warum hatte ausgerechnet er mir geantwortet? Warum er und nicht Keyla, wenn sie doch auch irgendwo dort draußen sein musste. Aber egal wie verquer die Situation gerade war, ich hatte immerhin wieder die Hoffnung, doch noch ein Mal mit ihr sprechen zu können. Vielleicht konnte mir sogar der Fremde, dessen Name ich nicht einmal kannte, dabei helfen, mit ihr Kontakt aufzunehmen. Wie auch immer, ich musste positiv denken, selbst wenn das nicht meine Stärke war. 

Den Schultag durchlebte ich auch heute mehrpassiv, als aktiv, da ich mir durchgehend Gedankendarüber machte wie ich jetzt vorgehen sollte. Was wenn der Fremde nicht mehr da war, wenn ich nach Hause kam? Und wenn ich dann nie mehr einen Geist rufen konnte. Eins stand fest: Ich wollte nie wieder so einsam sein wie die letzten Wochen, selbst wenn ich mich auf einen wie ihn einlassen musste. 

Nach einem langen und anstrengenden Schultag konnte ich endlich wieder meine Ruhe haben und schloss gerade die Haustür auf. Mein Herz pochte vor Aufregung. War er noch da? Ich betrat das Haus und das Erste, was ich zusehen bekam war meine gehetzt wirkende Mutter, die an mir vorbeirannte. "Alles okay?", fragte ich vorsichtig. 

Sie warf mir einen gestressten Blick über die Schulter zu. "Nichts ist okay, ich bin nur noch am Aufräumen! Alles fliegt auf den Boden!" Bevor ich noch etwas erwidern konnte war sie auch schon in der Küche verschwunden. 

Seufzend betrat ich mein Zimmer, wo ich meine Tasche achtlos auf den Boden warf. Obwohl ich den ganzen Tag darüber nachgedacht und sogar darauf gehofft hatte, zuckte ich kurz zusammen, als ich ihn auf meinem Sofa liegen sah. "Du bist immer noch hier", stellte ich überflüssigerweise fest. 

Er zuckte mit den Schultern. "Du doch auch."

"Ich wohne hier", erklärte ich genervt von seiner Dreistigkeit. "Im Gegensatz zu dir."

Er warf mir einen provozierenden Blick aus seinen glühend roten Augen zu. "Ich wohne, wo auch immer ich will. Ich bin ein Geist, schon vergessen?"

Natürlich hatte ich das nicht vergessen, wie könnte ich auch. "Und warum bist du dann noch hier, wenn du doch überall sein könntest?"

"Du bist die Einzige, mit der ich mich unterhalten kann. Hast du eine Ahnung wie langweilig es ist, wenn man niemanden zum Reden hat?" Er sah mich fragend an.

Ich wusste allerdings nicht ob ich ihm glauben konnte. "Du bist wohl kaum allein, was ist mit anderen Geistern? Rede mit denen. So unter Gleichgesinnten ist das doch viel interessanter." Kaum zu glauben, ich sprach tatsächlich mit einem Geist.

"Ich sehe die anderen Geister nur, wenn sie sich zeigen wollen. Das heißt ich bin allein, da mit mir niemand etwas zu tun haben will." Er wandte den Blick von mir ab. 

Ich sah in abwartend an. "Dein arroganter Charakter hat also auf Geister die gleiche abstoßende Wirkung, wie auf mich?"

Ein schelmisches Lächeln legte sich auf seine Lippen. "Du findest mich gar nicht so abstoßend, wie du denkst."

Meine Augenbraue wanderte in die Höhe. "Weißt du noch, was ich gerade eben über deine Arroganz gesagt habe?"

Er lachte leise, ließ sich aber von meinem scharfen Ton nicht beeindrucken. Erschöpft ließ ich mich auf mein Bett fallen. Ich war erleichtert, dass er tatsächlich noch da war, damit bestand noch Hoffnung. Aber gleichzeitig nervten mich seine einnehmende Art und die ständigen Sticheleien.

"Wie lange gedenkst du hierzubleiben?"

Er schlenderte zu mir, setzte sich ebenfalls aufs Bett und sah von oben auf mich herab. "Willst du mich schon wieder loswerden?" In seiner Stimme lag Belustigung.

Ich starrte weiterhin die Decke an. "Wer würde das nicht?" Es war schwierig mit ihm auch nur ein ernstes Gespräch zu führen. "Aber ich brauche dich, auch wenn ich das sehr ungern zugebe."

"Ist mir schon klar, dass zu mich brauchst", gab er nüchtern zurück.

"Du bist unausstehlich. Und außerdem lenkst du vom Thema ab!" Ich richtete mich auf und sah ihm in die Augen. Weiße Strähnen fielen ihm über die Augen, während er meinem Blick amüsiert standhielt. 

"Meiner Meinung nach bin nicht ich es, der vom Thema ablenkt." Ich hob fragend eine Augenbraue. "Aber um auf deine Frage zurückzukommen, ich gedenke vorerst hier zu bleiben, es macht einfach zu viel Spaß deine Mutter durchs ganze Haus zu scheuchen. Wie irritiert sie auch immer kuckt, wenn wieder ein Bild von der Wand fliegt."

Mein Blick wurde finster. "Du hast auch mein Notizbuch runter geworfen, nicht wahr? Wie machst du das?"

"Ich kann ein wenig mit dem Wind spielen und somit Dinge bewegen."

Der Wind ist die Sprache der Geister. Das stimmt also wirklich. "Wie auch immer, lass das bitte..." Ich sah ihn etwas verwirrt an, weshalb er eine dunkle Augenbraue hob. "Wie heißt du eigentlich?"

Er grinste. "Silen. Und du bist Rayn, das habe ich im Laufe des Tages auch rausgefunden." Ich verdrehte die Augen bei seinem eingebildeten Ton.

Ghost WhispersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt