Kapitel 18

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In den folgenden Tagen trainierte ich so oft es ging, indem ich im im Wald auf Blechbüchsen schoss. Silen gab mir immer mehr Tipps, wie ich den Wind beachten sollte, die Entfernung und die Wetterverhältnisse. Die Entfernung, aus der ich schoss, erhöhten wir jeden Tag, bis wir irgendwann bei 75 Meter und schließlich bei 100 ankamen. Wir übten mindestens zwei Stunden am Tag, weshalb ich auch stetig besser wurde. Und heute war der Tag. Der Tag bevor es ernst wurde. Wenn ich heute jedes Ziel traf, würden wir morgen zu Rogers gehen. Es waren inzwischen drei Wochen vergangen, seit wir die Waffen aus Silens Wohnung geholt hatten. Nichts war seither passiert und Silen meinte, es wäre genügend Gras über die Sache gewachsen.

Ich legte das Gewehr an meiner Schulter an, während ich flach auf dem Boden lag. Eine einfache Plastikplane schützte mich vor der Nässe des Schnees, doch die Kälte spürte ich trotzdem. Vor allem, da Silen darauf bestand, dass ich die einfache, schwarze Kleidung für den Mord schon jetzt trug und die Jacke nicht besonders warm hielt. Doch Silen ermahnte mich jedes Mal, ich sollte nicht jammern und mit dem Zittern während des Zielens zurechtkommen. Neun Dosen hatte ich schon getroffen und es war der letzte Durchgang für heute. Somit würde sich gleich zeigen, ob der Plan für morgen so beibehalten wurde. Ich atmete langsam aus. Weiße Wolken erhoben sich neben meinem Gesicht in den Himmel. Ich fokussierte mein Ziel. Der rote Punkt ruhte auf der Mitte der Dose. Langsam zog ich den Abzug nach hinten. Der Schuss hallte ohrenbetäubend zwischen der Ruhe des Waldes wider. Das Auftreffen der Kugel war dagegen äußerst leise gewesen. Ich holte zitternde Luft und erhob mich. Auch die letzte Dose war in den Schnee gefallen. Begeistert drehte ich mich zu Silen um, der mit angespannter Miene die Dose fixierte.

„Also können wir es morgen endlich erledigen?", fragte ich hoffnungsvoll nach. In meinem Inneren sammelte sich eine dunkle Wolke an Schuldgefühlen. Es war eine schreckliche Tat, die ich da plante, aber ich durfte nicht vergessen, dass es zum Wohl vieler anderer Menschen war.

„Du", Silen richtete seinen Blick auf mich. „Du wirst es morgen erledigen."

Ich nickte und packte die Waffe in ihre Tasche, bevor ich die Plane zusammenfaltete. Für ihn war das alles nichts neues. Der morgige Tag war für ihn reine Routine, ein Teil seines Jobs. Ob er diese Momente vermisste? Vielleicht sehnte er sich nach dem Abzug unter seinen Fingern.

„Schließen wir einen Deal." Ich sah ihn fragend an. „Wenn du Rogers tötest, helfe ich dir Keyla zu finden."

Mein Herz macht einen Satz beim Klang ihres Namens. „Aber ich wollte doch Rogers sowieso umbringen. Nicht für mich, aber... für dich und all die anderen Menschen."

Silen lehnte sich an einen Baum und verschränkte die Arme. Er trug nur ein schwarzes Hemd, weshalb ich unwillkürlich noch mehr zu zittern begann. Ich wandte mich von ihm ab und begann die Dosen einzusammeln. „Ich will sicher sein, dass du keinen Rückzieher machst." Er klang ernst, als würde es ihm tatsächlich sehr viel bedeuten, dass ich vorhatte, seinen Mörder zu töten.

Ich war zwar skeptisch, doch ich hatte bei diesem Deal nichts zu verlieren, außer mein gutes Gewissen und das würde ich für Keyla jederzeit aufgeben. Also willigte ich ein und wir gingen zusammen zurück nach Hause. Es war ein langer Fußmarsch, damit man die Schüsse in der Stadt nicht hören konnte, folglich war ich jeden Abend ziemlich erschöpft. Doch an diesem Abend konnte ich trotz eines warmen Bads nicht einschlafen. Meine Gedanken kreisten um den morgigen Tag.

Silen hatte anscheinend gemerkt, dass ich nicht schlafen konnte, denn irgendwann fragte er in die Dunkelheit hinein: „Du weißt, dass dich das für immer verändern wird?"

Ich wusste, was er meinte. Meine Unschuld und meine reine Seele würde ich nie mehr zurückbekommen. „Ja, aber mein Gewissen ist schon lange nicht mehr unbefleckt. Ich bin Schuld an Keylas Tod."

„Das bist du nicht. Du hast sie nicht umgebracht." Sein Versuch mich aufzumuntern berührte mich, aber er hatte dennoch unrecht.

Da fiel mir ein, dass ich Silen nie davon erzählt hatte, wie Keyla gestorben war. „Keyla und ich haben uns vor der Schule immer an der selben Stelle getroffen, um den restlichen Weg zusammen zu gehen. Doch an diesem Tag war ich spät dran und ich habe sie gefragt, ob wir uns an der Kreuzung, die näher bei mir ist, treffen können. Und als sie dann gekommen ist und von der anderen Straßenseite auf die Kreuzung zukam, ist plötzlich ein Auto auf den Gehsteig und in das Haus dahinter gerast." Ich holte einmal tief Luft. „Das Auto hat sie direkt erwischt und zwischen Motorhaube und Hauswand eingequetscht. Wäre die Ampel nicht rot gewesen, wäre ich schon längst auf ihrer Seite gestanden und das Auto hätte niemanden erwischt. Oder wäre ich nicht zu spät gekommen, dann wäre nichts davon passiert."

Es herrschte bedrückende Stille, bis Silen erwiderte: „Du kannst nichts dafür. Ich weiß nicht, ob es ein Schicksal oder so etwas ähnliches gibt, aber letztendlich kannst du nichts mehr daran ändern und du konntest es auch damals nicht. Also mach dir nicht unnötige Schuldgefühle." Er hatte recht, das wusste ich, doch ich konnte die Schuldgefühle trotzdem nicht verdrängen. „Ich hätte mich auch wahnsinnig machen können, weil ich ein unschuldiges Mädchen erschossen habe. Aber ich habe akzeptiert, dass ich es nicht ändern hätte können. An Keylas Tod ist einzig und allein der Autofahrer schuld."

Eine heiße Träne rann mir über die Wange. Silen hatte einen unschuldigen Menschen ermordet. Ich nicht. Wenn er sich selbst vergeben konnte, dann konnte ich das auch.

Ghost WhispersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt