Wir machten uns also unverzüglich auf zu der Frau, die angeblich auch Geister sehen konnte. Ob sie uns wirklich helfen konnte? Ich hoffte es, denn viele Möglichkeiten und Optionen hatte ich nicht mehr.
Da wir schweigend nebeneinander hergingen und ich mich zu langweilen begann, fing ich an leise zu singen. Es war das erste Lied, das mir in den Kopf schoss. „I'm holding on your rope. Got me ten feet off the ground. And I'm hearing what you say. But I just can't make a sound ..."
„Ich wusste nicht, dass du singen kannst", unterbrach Silen mein Gemurmel.
Ich lächelte etwas beschämt. „Ich mache es auch nur zu meinem Vergnügen." Ich sang eigentlich nur, wenn ich allein war, aber hier neben der Straße achtete niemand auf mich. Wenn ich mein Zimmer putzte, ließ ich mich meistens dazu hinreißen, meine ganzen Gefühle in ein Lied zu stecken. Es war befreiend, da ich keine Zeit darauf verschwendete, es richtig zu machen. Silen schenkte mir ein warmes Lächeln und griff nach meiner Hand. Was auch immer wir bald erfahren würden, wir mussten die Zeit nutzen, die uns blieb, denn niemand wusste, ob es nur eine Frage der Zeit war, bis wir uns nicht mehr berühren konnten.
Wir erreichten die gesuchte Bushaltestelle und fuhren den restlichen Weg mit dem Bus. Als wir wieder ausstiegen mussten wir das letzte Stück wieder zu Fuß zurücklegen, da die Frau wohl wirklich in einer Holzhütte im Wald lebte. Der Wald war düster und geheimnisvoll. Die Laubbäume hatten ihre Blätter schon vollständig abgeworfen, doch die Nadelbäume stellten sich eisern dem weißen Reif. Mir war unklar, warum man freiwillig so weit außerhalb der Zivilisation wohnte. Nach einer halben Stunde Fußmarsch erreichten wir die kleine Holzhütte, aus der eine dünne Rauchsäule in den verhangenen Himmel aufstieg. Ich fasste meinen Mut zusammen und klopfte vorsichtig an die dicke Holztür. Gedämpfte Schritte waren zu hören, als sich jemand der Tür näherte. Das Schloss wurde zurückgezogen und ein faltiges, rundes Gesicht schob sich durch den Spalt.
Die grauhaarige Frau musterte mich zuerst skeptisch, doch dann lächelte sie mich freundlich an. „Hast du dich verlaufen, Kleine?"
Ich drängte die Erinnerungen an diverse Horrorfilme zurück und ignorierte den Schauer, der mir über den Rücken lief. „Nein, ich bin hier, weil ich ein paar wichtige Fragen habe", erklärte ich mit fester Stimme.
Die Frau runzelte ihre ohnehin schon faltige Stirn. „Nun, wenn das so ist, komm rein. Du musst entschuldigen, ich bekomme nicht oft besuch."
Ich betrat die erstaunlich warme Hütte. Jede freie Stelle war mit irgendwelchen Gläsern und Fläschchen vollgestellt.
„Möchtest du einen Kräutertee?", fragte sie und bedeutete mir, mich auf einen staubigen Stuhl zu setzen.
„Sag ich doch: Kräuterhexe", meinte Silen, der keinen Schritt von mir wich und sich beschützend hinter mich stellte.
„Nein, danke", versuchte ich so höflich, wie nur möglich abzulehnen. Auch wenn ich mich nicht in einem Horrorfilm befand, konnte ich vorsichtig sein.
Also schenkte sie sich nur selbst eine Tasse ein und setzte sich dann gegenüber von mir auf einen hölzernen Schemel. Sie trug ein einfaches, braunes Stoffgewand. „Also, wie kann ich dir helfen, Mädchen."
Wie sollte ich dieses schwierige Thema wohl am besten ansprechen. „Was wissen Sie über Geister", platzte es aus mir heraus.
„Ach, ich habe ganz vergessen, mich vorzustellen. Ich bin Gundula, aber du darfst mich Gundi nennen", erklärte mir die Kräuterhexe lachend. „Und, um auf deine Frage zurückzukommen: Ich denke, wir wissen beide nur zu gut, dass manche Menschen die Gabe besitzen Geister zu sehen. Menschen wie du und ich."
Ich schluckte. War ich so leicht zu durchschauen? „Rayn", stellte ich mich kurz vor. „Woher wissen Sie..."
Gundula machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ich erkenne es daran, dass du immer wieder kurze Blicke zur Seite wirfst, als würdest du dich mit jemandem austauschen, den ich nicht sehen kann."
Unwillkürlich zuckte mein Blick zur Seite und suchte Silens Unterstützung. Doch der fixierte Gundula argwöhnisch. Ich räusperte mich ertappt. „Wieso können wir Geister sehen und andere nicht? Und warum können Sie ihn jetzt nicht sehen?"
Die alte Frau zuckte mit den Schultern. „Da gehen die Meinungen auseinander. Aber die meisten behaupten, wir hätten einen offeneren Geist und wären somit empfänglicher für das Übernatürliche. Und was deinen Freund betrifft: Er will nicht, dass ich ihn sehe, dann kann ich das auch nicht."
Diese Informationen brachten mich nicht wirklich weiter. „Und... konnten Sie auch schon mal einen Geist... berühren?"
Gundula zog eine Augenbraue hoch. „Ja, tatsächlich konnte ich das. Ein Mal." Ich sah sie mit einem fragenden Blick an, weshalb sie fortfuhr: „Kurz bevor mein Mann gestorben ist habe ich erfahren, dass er mir fremdgegangen ist. Deshalb war ich sehr wütend auf ihn und als er dann tot war, wollte ich ihn natürlich trotzdem zur Rede stellen. Und plötzlich konnte ich ihn sehen, als Geist." Sie machte eine Pause und trank einen Schluck Tee. „Wir stritten sehr viel. Und auf einmal wurde ich richtig wütend. So wütend, dass ich ihn geschlagen habe. Und zu meinem Verwundern bin ich auf Widerstand gestoßen. Er hat den Schlag wirklich gespürt." Ich nickte verstehend, obwohl ihr Blick auf der Tasse vor ihr lag. „Auch ich wollte damals mehr darüber rausfinden. Letztendlich habe ich erfahren, dass es möglich ist einen Geist zu berühren, wenn sehr starke Gefühle im Spiel sind."
Ich bekam einen Kloß im Hals. „Und bei Ihnen war das Wut."
„Ja, was steht zwischen euch?" Sie sah mich interessiert an.
Ich versuchte den Kloß hinunterzuschlucken, doch es misslang. Was sollte ich jetzt sagen? Sollte ich überhaupt antworten? Aber es wäre verdächtig, wenn ich es nicht tat. Silen hatte mein Zögern ohnehin schon bemerkt. „Es ist... Es ist Liebe." Ein Schauer lief mir über den Rücken und meine Wangen wurden heiß. Ich hatte es wirklich ausgesprochen. Wie lange wusste ich schon, dass ich ihn liebte und es mir aber nicht eingestehen wollte? Fühlte Silen überhaupt ähnlich? Irgendwie musste es so sein, denn ansonsten würden wir uns nicht berühren können. Oder?
Ich sah Gundula vorsichtig in die braunen Augen, die sich langsam mit Tränen füllten. „Ach Mädchen."
„Wie lange können wir uns berühren", schob ich schnell hinterher.
„So lange, wie das Gefühl anhält."
Ohne, dass ich es verhindern konnte fiel mir ein Stein vom Herzen. Vielleicht war es an der Zeit, meine Gefühle nicht mehr zu leugnen. Ich wagte es nicht meinen Blick zur Seite, auf Silen zu richten. „Meine beste Freundin ist bei einem Autounfall gestorben", wechselte ich das Thema. „Kann ich sie irgendwie zurückholen."
Gundulas trauriger Blick verstärkte sich noch etwas. „Das kommt darauf an, ob sie in der Geisterwelt ist, oder ob sie Frieden geschlossen hat und in der Welt danach ist."
Meine Brust wurde eng.
„Sie ist nicht in der Geisterwelt", stellte Silen fest. Ich sah ihn fragend an. Woher wollte er das wissen? Er erwiderte meinen Blick. „Denkst du ich hätte nicht schon längst alles nach ihr abgesucht? Schon als ich dich zum ersten Mal getroffen habe, habe ich alle nach Keyla gefragt."
In meinen Augen sammelten sich Tränen und meine Kehle schnürte sich zu. „Das wusste ich nicht", meinte ich mit erstickter Stimme. Ich hatte immer gedacht Silen würde gegen mich arbeiten und mir das Leben zur Hölle machen. Aber eigentlich wollte er mir die ganze Zeit über nur helfen und ich war zu blind vor Zorn, um es zu sehen. Ich griff nach seiner Hand und drückte sie. Silen beugte sich zu mir herunter und drückte mir einen Kuss auf den Scheitel. Ich war so gerührt von dieser warmen Geste, dass ich beinahe keine Luft mehr bekam.
Gundula verfolgte stumm das Geschehen, das sie nur zur Hälfte verfolgen konnte. „Wenn sie nicht in der Geisterwelt ist, fürchte ich, dass es keine Möglichkeiten gibt, sie zurückzuholen."
Ich wende mich ihr enttäuscht zu. „Gibt es denn gar keine Möglichkeit?"
Sie schüttelt den Kopf. „Leider nicht."
„Was ist mit Ihrem Mann passiert?", frage ich, um die Düsternis in meinem Kopf zu vertreiben.
Gundula zuckt mit den Schultern. „Ich habe irgendwann einen neuen Partner gefunden und von da an habe ich ihn nicht mehr gesehen."
Vermutlich hatte er seinen Frieden gefunden.
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Ghost Whispers
RomanceRayn hat den wichtigsten Menschen in ihrem Leben verloren: ihre beste Freundin. Zu ihren Eltern hat sie ein distanziertes Verhältnis, weshalb ihr nur ihre Freundin wirklich wichtig gewesen war. Doch Rayn will nicht einfach aufgeben, will nicht ohne...