KAPITEL 28

61 10 0
                                    

Chase

Hätte mich jemand gefragt, wie es so weit gekommen war, hätte ich ihm keine Antwort darauf geben können. Ich wusste nur, dass in der einen Sekunde noch alles perfekt gewesen war. Ashley hatte mich geküsst und das war womöglich der verdammt beste Kuss meines Lebens gewesen, auch wenn er überraschend gekommen war. Da war nur sie gewesen, immer wieder sie und ihre süchtig machenden Berührungen, ihre Wärme und der Geschmack ihrer Lippen. Und dann war plötzlich alles auseinandergebrochen, weil ich Idiot versucht hatte, ein Gentlemen zu sein. Fuck, ich hatte in diesem Moment nichts anderes gewollt, als sie in das verfluchte Gästezimmer zu tragen und mich endgültig in ihr zu verlieren, aber das wäre nicht richtig gewesen. Nicht nach all dem, was Ashley mir noch wenige Minute zuvor erzählt hatte. Nicht, nachdem ich noch immer mit meiner Wut und meinen anderen unkontrollierbaren Gefühlen zu kämpfen gehabt hatte. Nicht, wenn Ashley nicht vollkommen bei mir gewesen war und es am nächsten Tag womöglich bereut hätte. Wenn wir miteinander schliefen, dann weil sie es auch wollte und nicht, weil sie Ablenkung brauchte. Aber bevor ich ihr all das hatte sagen können, war sie gestern Abend wütend aus der Küche gestürmt und hatte den Rest des Abends und des heutigen Morgens kein Wort mehr mit mir geredet. Nun saßen wir in meinem Wagen und passierten das Ortsschild von Silverhaven nach einer langen Fahrt in unangenehmen Schweigen und Anspannung, die mir viel zu viel Raum zum Nachdenken gegeben hatten. Ich hatte den gestrigen Abend so oft Revue passieren lassen in meinem Kopf, dass ich ihn auswendig wiedergeben könnte, wenn mich jemand darum bat.

Bis auf ein paar Kleinigkeiten war der Abend nämlich perfekt gewesen. Ich hatte endlich einmal das Gefühl gehabt, dass ich nicht der Einzige von uns beiden war, der mehr als Freundschaft für den anderen empfand. Dieser Moment, in dem ich sie in meinen Armen gehalten hatte, und der Kuss später hatten eine Hoffnung in mir geweckt, die gefährlich war. Gefährlich, weil ich Ashley und mich viel zu sehr wollte. Ich wollte dieses Wir. Ein Wir, das ich vielleicht niemals haben konnte. Außerdem ließen mich all die Momente, in denen sie unfassbar viel über ihre Vergangenheit mit mir geteilt hatte, nicht mehr los. Ich hatte ja keine Ahnung gehabt, wie schrecklich ihr Leben war, seit Sawyer Thompson abgehauen war, und ich war noch immer so unfassbar wütend auf ihre Mutter und ihren Vater. Ashley hatte diese Familie nicht verdient und dennoch war sie so verdammt stark, dass ich vor Stolz platzen wollte. Ich hatte noch nie jemanden wie Ashley getroffen. Immer und immer wieder erweckte sie in mir den Wunsch, etwas Neues über sie zu erfahren. Aber nach dem gestrigen Abend hatte ich mir diese Chance vielleicht verspielt.

Ich unterdrückte ein Fluchen und presste stattdessen meine Lippen zu einem schmalen Strich zusammen, ehe ich den Blinker setzte und in Ashleys Straße einbog. Dabei streifte mein Blick für eine Sekunde ihr Gesicht, das auf der einen Seite von ihrer feuerfarbenen Haarpracht überdeckt wurde. Ihr Blick war auf ihr Handydisplay gerichtet. Ich lehnte mich im Sitz zurück und schaffte es irgendwie, den Blick von ihr abzuwenden, um mich auf die verwahrloste Straße zu konzentrieren. Ich hasste es, dass Ashley hier wohnte. Natürlich konnte sie auf sich selber aufpassen und sich verteidigen, aber selbst ich wollte nicht in dieser Gegend wohnen. Seit Jahren versuchte Silverhavens Bürgermeisterin zusammen mit dem Silverhaven Police Departement gegen die Kriminalität im Sektor dieser Stadt anzugehen, aber sie scheiterten immer wieder. Die Gegend gehörte praktisch den Silverhaven Kings, und diese waren schwerer dranzukriegen als jeder Krimineller in ganz Kalifornien oder gar den USA. Sie waren schon mit etlichen Verbrechen davongekommen, und wenn ich daran dachte, dass Ashleys Mutter sogar mit dem obersten Gangmitglied in Verbindung stand, wurde mir ganz übel. Ashley war hier einfach nicht sicher. Ich schluckte den Kloß in meinem Hals hinunter und trat gerade noch rechtzeitig auf die Bremse, ehe wir an Ashleys Wohnhaus vorbeifahren konnten. Der Wagen kam mit einer eleganten Vollbremsung zum Stehen, während mein rasendes Herz sich mit den Motorengeräuschen und der Radiomusik vermischte. Als ich den Motor ausschaltete, war unser Atem das einzige Geräusche, das den Wagen erfüllte. Die unangenehme Stille bohrte sich direkt in meinen Magen.

BREAK THROUGH THE WALLSWo Geschichten leben. Entdecke jetzt