VIER

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Nach einem dreistündigen Ritt bleibt Ean endlich stehen. Die Pferde sind nicht mehr imstande weiterzulaufen und die Sonne ist immer noch nicht zu sehen. Wohin es geht, ist nicht entschieden, doch Misa hat sich den Plan in Eans Kopf anders vorgestellt. Ean steigt vom Pferd und nimmt die wichtigsten Sachen aus der Satteltasche.

„Ab hier geht es zu Fuß weiter."
„Was genau meinst du damit?", hinterfragt Misa überfordert.
„Die Pferde bleiben hier. Es soll aussehen wie eine Entführung", erklärt er und schaut sie skeptisch an. „Falls du es noch nicht vergessen hast", fügt er hinzu.
Während sie vom Pferd steigt, ist ihr das Entsetzen im Gesicht förmlich anzusehen. Das nächste Dorf ist noch Stunden zu Fuß entfernt und Misa wird schon langsam von der Müdigkeit überwältigt. Ean hingegen ist körperliche Anstrengung gewöhnt, es ist nichts Außergewöhnliches, dass er mal Nächte durchtrainiert.

Doch trotz allem, versucht die Prinzessin nicht zu zeigen, wie erschöpft sie ist. „Es dauert nicht mehr lange, bis wir beiden als vermisst gemeldet werden und alle Provinzen darüber informiert sind. Wir können nicht riskieren, dann noch als Hochverräter abgestempelt zu werden", erläutert Ean als Misa sich eine Tasche um die Schulter hängt.
„Dein Aussehen ist schon auffällig genug", fügt er gereizt hinzu.

Die wenigsten kennen Misas Gesicht, doch es ist klar, dass ein Mädchen mit ihren Haaren sehr schnell auffallen wird. Dies ist Ean von Anfang an bewusst gewesen, doch er weiß nicht, was er dagegen tun kann. Misas Aussehen ist außergewöhnlich. Ean hat in seinem Leben nie ein Mädchen mit ihrer Haarfarbe gesehen. Misa ist eine wahre Schönheit und das bereitet ihnen ein Problem. 

In seinen Gedanken versunken merkt er nicht, wie lange er sie schon anstarrt. Misa bemerkt das Starren in ihrem Rücken, doch sie verkneift es sich, darauf einzugehen. Ihr fehlt im Moment die Kraft, sich mit so etwas Absurdem auseinanderzusetzen.

Es dauert nicht lange, bis Ean klar wird, dass Misa auch mittlerweile ihre Grenze erreicht hat. Er stellt sich mit dem Rücken vor sie und schlägt ihr vor, sie weiter auf dem Rücken zu tragen, was sie zu Anfang ablehnt, doch nach einiger Zeit nachgibt.

Wenig später, kann man am Ende des Horizonts schon den Sonnenaufgang sehen. Misa schläft seelenruhig auf Eans Rücken und ihm scheint es nichts auszumachen. Im Gegenteil, auch wenn er es nicht zeigt, für ihn ist die Hauptsache, dass es ihr gut geht. Denn auch wenn er ihr gegenüber keine romanischen Gefühle hegt, wie er es bei einer anderen Frau tun würde, verspürt er trotz dessen ein Zwang, sie zu beschützen.
Ob dies Liebe ist? Dies kann man bezweifeln.

Als die Sonne aufgeht, kann man die ersten Häuser, der nächstgelegenen Stadt, die in der Provinz Uminya liegt, sehen. Es ist die Provinz, die sich aus dem Wasser-Clan gebildet hat. Sie liegt weit im Westen Caeliums und befindet sich nicht nur am Meer, sondern hat auch viele Flüsse, die bis in die Hauptstadt Celestia führen, aus der Ean und Misa geflüchtet sind. Sie grenzt zu der Provinz Knyx, die aus dem Erd-Clan entstand.

Uminya ist im südlichsten Teil, das an Knyx grenzt, im Winter mit Eis überzogen. Die Grenze der beiden Provinzen besteht aus Bergen und einem gefrorenen Fluss, der zumindest im Sommer eine der wichtigsten Wasserquelle für Celestia ist. Im Winter ist es dort so kalt, dass der Fluss gefriert, sodass das Wasser gar nicht nach Celestia kommt. Im Norden von Uminya regnet es viel. Die Menschen, die dort leben, haben besonders in den Sommerzeiten viel mit Überschwemmungen zu kämpfen. 

Die meisten Menschen lösen dieses Problem, indem sie in die Berge ziehen, sich höher gelegene Orte suchen, oder das Element des Wassers erlernen.
Nur die wenigsten sind mittlerweile in der Lage, es zu beherrschen, geschweige denn es so zu kontrollieren und zu stoppen, dass die Stadt nicht überschwemmt wird. Die Menschen in Uminya haben angefangen zu glauben, dass sie nicht in der Lage sein sollten, in die Natur einzugreifen und sie zu beeinflussen. Alles, was Mutternatur tut, hat ein Grund. Zumindest glaubt die neue Generation daran.

Misa und Ean sind in den Süden von Uminya geflohen. Sie sind nicht weit von der Grenze, der Provinz Arendel, die im Norden liegt, entfernt. Ean hat diesen Weg bewusst gewählt, da dieser stark bewuchert und weit entfernt von der eigentlichen Route ist, die sie sonst immer reiten.

Er setzt Misa langsam ab und sie streckt sich, als sie zu Boden kommt.
„Das müsste also die Stadt Kian sein", stellt sie fest. Ean antwortet ihr mit einem kurzen nicken und zieht ihr die Kapuze über den Kopf.
„Kian ist eine der Städte, in der es Menschen gibt, die Überflutungen stoppen können", erzählt Ean ihr, bekommt aber bloß einen arroganten Blick von Misa zurück.
„Ich weiß. Nur weil ich nichts über Politik weiß, heißt es nicht, dass ich keine Bildung hatte", entgegnet sie ihm zickig und zieht die Kapuze noch ein Stück weiter über den Kopf.
Die Stadt ist drumherum stark mit großen Bäumen bewuchert, die wahrscheinlich schon mehrere hundert Jahre alt sind.

„In der Stadt ist es besonders wichtig, dass niemand deine Haare sieht", erklärt er ihr, als er die ersten Menschen in der Stadt erblickt.
„Aufgrund unserer Klamotten stechen wir hier, im Norden von Uminya schon genug heraus", fügt er hinzu.

Die Menschen tragen hier auffällige, bunte Kleidung. Die Frauen legen besonders Wert auf breite Kleider, die bis zum Knöcheln gehen und die Schultern offen zeigen. Ihre Haare tragen sie nach oben zusammengebunden und mit einem bunten Tuch und großen Ohrringen betonen sie das Gesicht nochmal besonders. Die Männer hingegen tragen einfache Hemden, mit einer Hose, die bis kurz vor die Knie reicht.
Doch da die beiden weit an der Grenze sind, mischen sich die Kulturen in der Stadt und auch Mode aus Arendel, die sich stark unterscheidet, gibt es hier oft zu sehen.

Der Morgen ist nun schon angebrochen und die Menschen sind wach. Um die Stadt liegt keine Mauer und dies ist überall in Uminya so. Wasser steht für Veränderungen und unter Veränderungen verstehen die Menschen hier Frieden aller Provinzen. Damit wollen sie ein Zeichen setzten, dass sie nicht kämpfen werden. Selbst nicht zur Verteidigung. 

Dies macht es auch für die beiden einfacher in die Stadt zu kommen. Wegen des Marktes auf den Straßen ist es schwer eine Übersicht über die Menschenmenge zu behalten. Auch dies kommt den beiden zunutze.

Als Misa den Markt erblickt, bildet sich ein Lächeln auf ihren Lippen.
„Weißt du noch, als wir auf dem Markt in Celestia waren?", erinnert sich Misa zurück. Sie ist es nicht gewohnt, selbst Lebensmittel zu kaufen. Das einzige Mal, als sie auf dem Markt war, ist schon Jahre her. Sie war mit Ean aus dem Schloss abgehauen, um Celestia zu erkunden und auch dieses Mal ist er an ihrer Seite. 

„Ja, das war das eine Mal, wo es mich fast mein Kopf gekostet hätte. Das habe ich ja beinahe vergessen", entgegnet er ihr ironisch und sie schenkt ihm ein Grinsen.
„Ach, mein Vater sieht bloß aus wie ein bellender Hund, das wissen wir beide." Ean muss kurz in sich hineinlachen und beobachtet Misa, wie sie sich im nächsten Moment alles ganz genau anschaut. Lange können die beiden hier nicht bleiben, das steht fest.

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