SECHS

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„Euren Schmuck behaltet ihr bei euch. Solltet ihr es verkaufen, würde es mehr Spuren hinterlassen als wir sowieso schon dalassen", erklärt Ean Misa, als sie sich schon aus der Taverne bewegen. Er hat ihr das ganze Essen lang eine Predigt darüber gehalten, in was für einer Gefahr, die beiden nun sind und dass sie jetzt lernen muss, ihre Naivität abzulegen.

Der Mittag ist schon angebrochen und einen weiteren Tag können sie hier nicht bleiben. Die Wachen des Schlosses werden auch schon bald hier erscheinen und da die beiden kein Pferd besitzen, sind sie sowieso klar im Nachteil. Abgesehen davon, sind sie jetzt dem Druck ausgesetzt, dass jeden Moment das Kopfgeld auf die beiden verkündet wird und das, auch wenn Ean nicht unbedingt davon ausgeht, dass sie direkt in die Schatulle gucken werden. Wenn sie ganz viel Glück haben, bekommt Misas Mutter das mit und schafft es, die beiden zu decken. Doch davon dürfen die beiden nicht ausgehen. Es ist viel zu riskant, nur von Glück zu hoffen.

Sie haben noch einen halben Tagesmarsch vor sich, bis sie ihr nächstes Ziel erreichen. Dies ist bewusst so gewählt, da auch Ean bald auf seine Grenze stößt. Misa hat noch die Möglichkeit gehabt, sich auf Eans Rücken ein wenig auszuruhen, währenddessen hat Ean, seitdem sie das Schloss verlassen haben, noch keine richtige Pause gemacht.
Vom nächsten Ziel ist Ayan auch nicht mehr weit entfernt. Es ist von da aus nur noch ein kurzer Tagesmarsch und eine Bootsfahrt hin. Außerdem ist es die Großstadt Ukyn in der sie den Stopp machen. Dort ist tags und nachts sehr viel los und die beiden würden auch nicht durch ihren Klamotten besonders auffallen.

Auf dem halben Weg, auf dem sie schweigen, ist Misa mit ihren Gedanken ganz woanders. Sie denkt über die Dinge nach, die Ean ihr gesagt hat. Über die sie sich zuvor nie Gedanken machen musste. Darüber, wie gefährlich es eigentlich all die Jahre im Schloss für sie war und wie jeden Moment jemand sie hätte vergiften können. Doch ihre naive, leicht manipulierbare Art war im Endeffekt das, was sie geschützt hat.

Fragen kommen ihr in den Kopf. Was wäre, hätte sie ihre Klappe weiter vor Riku aufgemacht? Hätte er sie aus dem Weg räumen müssen?
Hätte er Misa an jemanden, zwangsverheiratet bloß, um sie ganz weit wegzuschicken?
Sie weiß schon lange, dass Riku sie, seit sie eine junge Dame geworden ist, nicht wirklich leiden kann. Aber sie nimmt es ihm nicht übel, denn Misa hatte alles, was Riku jemals wollte. Und zwar liebevolle Eltern.
Doch auch ihr Vater ist jemand, der sie beschützt hat und immer nur das Beste für Misa wollte.
Jahre hat er zugesehen, wie Männer um die Hand seiner Tochter kämpfen, nur um den besten für sie auszusuchen. Leider ist nicht zu Heiraten keine Option für ihn. Die Liebe zu seiner Tochter ist um einiges größer, als die zu Riku und das zeigte er auch. Während er Misa seine Zeit schenkt, nur um mit ihr am Tisch zu essen, sieht er seinen Sohn nur, um über die Politik zu reden. Er sieht in seiner Tochter eine Ablenkung von seinen Pflichten. In seinem Sohn sieht er die Pflicht.

Erst jetzt wird es Misa auch richtig bewusst, sie weiß nicht, wann sie ihre Eltern das nächste Mal sehen wird, und ein Stich breitet sich in ihrer Brust aus. Doch ihr Wille, mehr über die Wahrheit hinter Freyas Geschichte herauszufinden, ist größer. Es lässt diesen Stich, den sie in der Brust spürt, nicht so sehr schmerzen. Jetzt hat sie noch die Möglichkeit umzukehren, doch dies kommt für sie auf keinen Fall infrage.

Ean bringt sie wieder in die Realität. Er zieht sie vom Waldweg in die Büsche und legt seine Hand auf ihren Mund, damit sie keinen Mucks von sich gibt.
Im nächsten Moment reiten zwei Ritter den Weg an den beiden vorbei.
„Das waren keine Ritter aus dem Schloss. Wenn wir Glück haben, erreicht die Stadt die Nachricht der verschwundenen Prinzessin erst Morgen", flüstert er ihr zu und lässt wieder von ihr ab.

Als sie den Wald verlassen, kann man schon die Türme des Schlosses sehen. Es sieht anders aus als das Schloss, in dem Misa aufgewachsen ist. Es sind keine runden Türme, die hoch hinausragen, sondern eckige Türme, die etwas höher sind als das restliche Gebäude. Das Gebäude unterscheidet sich von üblichen Häusern bloß wegen der extravaganten Fenster und dem Baumaterial. Die Adligen in Uminya wollten sich nie stark vom restlichen Volk unterscheiden.

Misa kennt den Fürsten und seine Tochter. Beide sind gutherzig und bei ihnen steht Macht nie an erster Stelle.
Der Fürst steht für Veränderung. Doch er möchte in Gegensatz zu seinem Vater, dass die vier Provinzen voneinander unabhängig werden. Dies ist das komplette Gegenteil, von dem, was sein Vater wollte. Und womöglich auch das komplette Gegenteil, von dem, was seine Tochter möchte.
Sie ist die nächste Erbin, die erste Frau seit langem, die die Stelle ihres Vaters einnehmen wird. Misa ist schon immer etwas eifersüchtig auf sie gewesen, auch wenn sie dies nie zugegeben hat.

„Die Wachen sind nicht vermehrt", merkt Ean, als die beiden in die Stadt kommen. „Die Nachricht ist also noch nicht in der Stadt angekommen", fügt er erleichtert hinzu. Auch Misa fühlt sich direkt weniger angespannt. Die Sonne beginnt schon unterzugehen und die beiden machen sich direkt auf die Suche nach einer Gaststätte und werden auch schnell fündig.
„Sobald wir in der Gaststätte sind, benehmen wir uns wie ein verheiratetes Pärchen", erklärt er, bevor die beiden eintreten. Misa versteht und klammert sich direkt an ihn. Sie können es nicht riskieren, hier großartig aufzufallen, wenn sie hier die Nacht bleiben wollen. Misa hat mittlerweile begriffen, wie gefährlich es für die beiden enden kann, sobald sie sich etwas anders benehmen als angebracht. Allein wenn jemand ihre Haare sehen würde, kann es das Ende für sie heißen.

„Wir hätten gerne ein Zimmer, indem man nicht unbedingt in die Innenstadt schauen muss", gibt Ean direkt von sich als sie empfangen werden. Der bärtig und kräftig gebaute Mann jedoch schenkt den beiden zu Anfang keine große Beachtung. Erst, als Ean die Münzen auf den Tisch legt, liegt die Aufmerksamkeit des Herren auf den beiden. „Und das beste Essen des Hauses", fügt Ean hinzu, als der Mann gegenüber von ihm die Augen weit offen hat.
„Folgen sie mir. Sie bekommen unser bestes Zimmer, mit der bestmöglichen Gelegenheit für Privatsphäre." Der Mann schenkt Misa ein kurzes Nicken als Begrüßung und grinst Ean mit einem ganz weiten Lächeln an, von dem Misa sich gar nicht vorstellen konnte, dass er dazu fähig ist.

Eans gekränkter Gesichtsausdruck zeigt genau, dass er versteht, worauf der Herr anspielen möchte. Dies ist zwar auch so in etwa sein Ziel gewesen, doch er hofft trotz dessen, dass Misa es nicht versteht. Er will ihr einfach die Scham ersparen.
Der Herr schnappt sich den Schlüssel und läuft vor. Die beiden folgen ihm und kommen an einem der hintersten Zimmer im Flur an. Er öffnet den beiden die Tür und drückt Ean den Schlüssel in die Hand.
„Das Essen lasse ich ihnen gleich hochbringen", erläutert er und geht wieder. Ean schließt hinter sich direkt zu und verschnauft kurz.

Das Zimmer ist nicht groß, aber es ist ausreichend für zwei Personen. Misa legt sich auf dem Bett zurück und bleibt für paar Minuten einfach da liegen.
„Meinst du, die hätten nicht auch ein Zimmer mit zwei Betten gehabt?", kommt es von ihr nach einer Weile der Stille. Ean seufzt genervt und geht zum Fenster.
Dies hat wie erhofft keine Aussicht auf die Innenstadt und man kann jeden Moment von hier aus aufs Dach klettern. „Was hatte ich euch gesagt, bevor wir in die Gaststätte gekommen sind?"
Misa überlegt einen kurzen Moment, wird kurz darauf ganz rot und versteckt ihr Gesicht in ihren Händen. Ean hingegen ignoriert dies und legt sich auf die kleine Couch, die an einem Kamin steht. Es dauert auch nicht lange, bis das Essen kommt und die beiden gesättigt schlafen gehen können.

Auch wenn Misa zu Anfang damit gerechnet hat, dass Ean sich zu ihr ins Bett legt, ist sie umso mehr erleichtert, als er sich ein Kissen und eine Decke schnappt und es sich auf der Couch bequem macht. Doch, nachdem sie wegen ihres schlechten Gewissens, nicht einschlafen kann, entscheidet sie sich, Ean das Bett zu überlassen.

„Ean", murmelt sie leise und hofft, dass es reicht, um ihn zu wecken, doch er schläft anscheinend schon tief und fest. Als er die weiteren Male nicht auf seinen Namen reagiert, steht sie vom Bett auf und geht zu ihm an die Couch.
Sie kniet sich zu ihm und schaut ihn einen kurzen Moment bloß an. Sein Atem ist ruhig und regelmäßig und Misa muss direkt schmunzeln. Selten, dass sie Ean so sieht.
„Ean", versucht sie ihn, mit ruhiger Stimme zu wecken, doch auch hier nach mehreren versuchen, bekommt sie keine Reaktion. Er schläft tief und fest, also entscheidet Misa sich dazu, ihn ein wenig anzutippen. In derselben Sekunde greift er, wie aus Reflex, leicht nach ihrem Arm.
„Frey, lass mich schlafen", murmelt er vor sich hin. Misa zieht ihren Arm direkt von ihm weg. Und der einzige Gedanke, den sie sich stellt, ist: Wer ist Frey?

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