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„Wir können jetzt noch nicht los! Du musst dich noch schonen und ich habe Lurra noch nicht überzeugen können, dass sie mitkommt", gibt Misa genervt von sich, während Ean sich verhält wie ein kleines Kind, dass bloß schnellstmöglich weg möchte.
„Und hier ist es außerdem am sichersten", fügt sie hinzu und lehnt sich am Tisch hinter sich ab. Er hingegen legt sich wieder ins Bett und dreht sich von ihr weg. „Du willst bloß nicht weg, weil es dir hier bequem erscheint", wirft er ihr noch hinterher und schenkt ihr keine weitere Aufmerksamkeit. Misa ignoriert es und verlässt die Hütte.

Und auch wenn sie es nicht einsehen will, ihr gefällt es hier. Sie hat im Laufe des Monats, viele neue Menschen kennengelernt und es sich hier tatsächlich bequem gemacht. Sie möchte hier nicht so schnell weg und auch nicht ohne Lurra. Je länger sie darüber nachdenkt, desto klarer wird ihr, dass diese Situation genau das widerspiegelt, was im Buch beschrieben wird. Der Gedanke daran lässt ihr mulmiges Gefühl im Magen wachsen.

Denn der beste Weg, einen Gefangenen eingesperrt zu lassen, ist es, ihn nicht wissen zu lassen, dass er gefangen ist.

Lurra hat die letzten Tage ihr Hütte kaum verlassen. Der Gedanke daran, dass sie die Göttin des Wassers ist, nimmt sie mehr mit, als irgendjemand hätte vermuten können. In den Nächten, in denen Misa bei ihr in der Hütte schläft, erzählt sie ihr von der Welt außerhalb dieser Insel.

Misa hat die Welt außerhalb des Schlosses selbst noch nicht gesehen, erzählt trotzdem alles so detailliert, als hätte sie es schon mit eigenen Augen gesehen. Doch Lurra schweigt. Sie will es nicht hören. Nicht darüber sprechen. So als wäre da mehr hinter Lurras Angst, als bloß ihre Familie hier zu lassen.
Und so ist es auch. Heute ist der vierte Todestag des ehemaligen Clanführers. Und wie Misa erst heute erfährt, der Todestag von Lurras Vater. Lurra ist das Mädchen über die sie als vierzehn Jährige erzählt bekommen hat.
Sie ist das junge Mädchen, das mit Tieren sprechen kann. Ein Mädchen mit einem unfassbar großen Herzen, hilfsbereit, stark und auch intelligent.

Und zu diesem Anlass wird die Insel mit Lichtern zu einer anderen Welt gemacht. Menschen ziehen am Abend mit Laternen durch die Straßen und überall hängen Lichter in allen Farben. In der Innenstadt wird ein großes Lagerfeuer entfacht. Die Menschen tragen nicht das typische Schwarz, sondern alle sind in Weiß gekleidet. Denn in Uminya ist der Tod was Schönes. Die Menschen trauern, sie leiden am Verlust. Aber der Tod bedeutet, man steigt auf in eine schönere Welt, die die Götter einem schenken. Und somit wird die Farbe der Unschuld und des Friedens getragen. Auch Misa ist in Weiß gekleidet.

Lurra ist den gesamten Tag nicht aufzufinden, auch nicht am Abend, als alle beisammen am Feuer sitzen. Misa hat es geschafft, Ean aus dem Bett zu bekommen und auch Lurras Großvater ist anwesend. Das Dorf ist nicht am Trauern, hier geht es eher darum, an ihn zu denken und sich an die schönen Dinge zu erinnern. Die Menschen essen zusammen, singen und erzählen sich Geschichten über ihn. Auch Ean findet sich einen Platz. Bloß Misa hat es schwer, sich hier ohne Lurra zurechtzufinden, also entschließt sie sich dazu, Lurra zu suchen. In der Hütte ist sie nicht, genauso wie in der Innenstadt. Also folgert Misa, dass Lurra wohl am Gewässer ist, über den die beiden hergekommen sind.

Als sie sich dem Gewässer nähert, hört sie das ständige Aufprallen des Wassers und sieht vom Weiten, wie sich ungewöhnliche Formen bilden, so als hätte jemand die Kontrolle darüber. Und als Misa sich dem Wasser nähert, realisiert sie, dass es tatsächlich so ist.
Lurra sitzt am Gewässer und die leichten Handbewegungen zeigen dahin, wo das Wasser sich hinbewegt. Es sind bloß leichte Bewegungen und trotz allem bewegt sich das Wasser rasant und aggressiv. Sie bemerkt zu Anfang nicht, dass Misa sich zu ihr setzte, doch zuckte im nächsten Moment direkt zur Seite, als sie sie bemerkt. Das Wasser prallt auf und wird auf die Sekunde ruhig. Als Lurra Misa erkennt, wird auch sie direkt ruhig.

„Hast du auch das Wasser kontrolliert, als wir herüberwollten?", ist die erste Frage, die Misa in den Kopf kommt und Lurra nickt.
„Ich verteidige das Dorf vor unerwünschten Gästen. Daran ist nichts verkehrt", entgegnet Lurra und zwischen den beiden entsteht ein Moment der Stille. Beiden liegt etwas auf dem Herzen, doch niemand traut sich, es anzusprechen.

„Ich kann dich nicht zwingen mitzukommen, wenn du nicht willst", bricht Misa die Stille. Lurra sieht zum Wasser und überlegt.
„Nein, hierfür wurde ich geboren und ich werde mitkommen." Misa starrt sie nach dieser Antwort einige Sekunden überrascht an.
„Ich hatte mein Leben lang das Gefühl gehabt, dass ich für mehr bestimmt bin als das. Ich fühle mich einfach noch nicht bereit, meine Freunde und Familie hier zu lassen." Lurras Blick gleitet mit einem sanften Lächeln zu Misa.

„Wir beide können nicht sagen, wann oder ob wir überhaupt zurückkehren. Ich habe Angst davor." Misa kann dies bloß mit einem nicken bestätigen.
„Als Ean und ich aus dem Schloss geflohen sind, wussten wir auch nicht, wohin unser Weg uns führen wird. Wir wissen es bis heute nicht, wohin es gehen wird. Das Einzige, was wir wissen, ist, dass es kein Zurück im Schloss mehr gibt." Misas Blick ist leer, als sie das sagt. Sie hat den Gedanken, nach Hause zu kommen, aus ihrem Kopf gestrichen. Für sie gibt es nur noch einen Weg und sollte sie diesen Weg gehen, wird es das Zuhause, was sie kennt und in dem sie aufgewachsen ist nicht mehr geben. Sollte das Gerücht herumgehen, dass Misa die Wiedergeburt Freyas ist, würde sich alles zu einer Hexenjagd entpuppen. An dem Faden hängt mehr als bloß eine Menschenseele. Das ist ihr mittlerweile bewusst geworden.

Beide stehen auf und sehen sich an. Aus dem Nichts verneigt Lurra sich vor ihr. „Prinzessin Misa, ich erkenne euch als Kronprinzessin an. Ich werde euch bis zum Schluss folgen und euch mit meinem Leben beschützen." Misa schaut sie nervös an, doch ganz tief im Inneren will sie, dass es ihr zusteht. Und so beginnt Misa ihr Handeln damit zu rechtfertigen.

Denn auch das Buch erzählt über Freya und ihre Wiedergeburt. Eine Göttin, die Menschen liebte und alles tat, damit es ihnen gut ging.

The LegacyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt