FÜNFUNDDREIßIG

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Ean steht schon fertig gekleidet vor dem Laden und wartet auf Misa. Die Damen im Laden haben schnell was für ihn herausgesucht und nach draußen geschickt, um sich mit Misas Bekleidung zu beschäftigen.

Als sie endlich aus dem Laden tritt, trägt sie einen weißen Kimono, kunstvoll mit roten Stickereien verziert, und einen passenden roten Gürtel, der ihre Taille betont. Auf den Lippen haben die Damen ihr roten Lippenstift aufgetragen und auch ihre Wimpern sehen voluminöser aus.

Während Misa nun durch die Kleidung und ihre viel zu helle Haut, wie auch dunklen Haare, kein Stück heraussticht, verrät Eans goldbraune Haut immer noch seine Herkunft. Misa hat im Laufe ihrer Reise etwas mehr Farbe angenommen, jedoch ist ihre Haut immer noch nicht an die Sonne gewöhnt. In Arendel ist die Sonne nicht so stark wie in den restlichen Provinzen, weswegen hier auch ein hellerer Hautton mehr in der Mode ist.

Als Ean Misa sieht, stockt ihm kurz der Atem. „Hat euch das Geld gereicht?", fragt er sie, ohne den Blick von ihr zu wenden. Misa nickt und schenk ihm ein Lächeln, bevor sie vorgeht. „Ich sehe auch, wenn man mich anstarrt", neckt sie ihn ein weiteres Mal, worauf er ihr, ohne noch weiter was zu sagen, folgt.

Misa spürt die Erschöpfung in ihren Gliedern, als sie gemeinsam mit Ean durch die Gassen irrt. Die Laternen an den Häusern werfen sanftes Licht auf die gepflasterten Wege, während die Sonne am Horizont fast verschwunden ist. Die leeren Gassen und die vergebliche Suche nach einer Unterkunft lassen ihre Gedanken kreisen. In ihrer Umgebung gibt es keine Menschenmengen und sie stehen vor der Herausforderung, keinen geeigneten Übernachtungsort zu finden.

„Ean, hörst du das?", fragt Misa plötzlich. „Wenn da viele Menschen sind, kann uns bestimmt jemand weiterhelfen." Sie zieht ihn, ohne noch lange zu zögern, an der Hand mit und sie kommen wieder an einer Hauptstraße raus. Die Luft ist erfüllt von köstlichen Düften und fröhlichem Stimmengewirr. Stände mit dampfenden Speisen und exotischen Gewürzen ziehen ihre Aufmerksamkeit auf sich. Andere Stände bieten Krimskrams an, von bunten Tüchern und kunstvollen Schirmen bis hin zu seltsam geformten Masken, die wie Fuchsgesichter aussehen. Die Kirschbäume, die die Straße säumen, stehen in voller Blüte und ihre zarten rosa Blütenblätter tanzen im sanften Abendwind. Misa kann nicht anders, als sich erstaunt umzuschauen. Das Fest ist voll mit Menschen, die sich amüsieren. Ean hingegen wirkt angespannt und weicht keinen Schritt von Misa.

„Wie schade, dass Lurra und Aidon das verpassen", murmelt Misa deprimiert von sich und schenkt Ean nicht einmal einen Blick, so überwältigt ist sie von den Eindrücken um sie herum.

„Kommt, ich zeig' euch etwas, das euch gefallen könnte", sagt er in einem angenehmen Ton und nimmt ihre Hand. Er zieht sie zu einem Stand, an dem alle möglichen Süßigkeiten zu finden sind. Ob aufgespießte bunte Kugeln, Zuckerwatte oder getrocknete Früchte, was das Herz begehrt, ist hier zu kaufen.

„Zwei Liebesäpfel für uns", bittet Ean den bärtigen alten Herren hinter dem Stand, der ihnen diese mit Vergnügen anreicht. „Ihr wisst nicht, ob zufällig irgendwelche Unterkünfte noch frei sind?", fragt Ean den Verkäufer, als er ihm das Geld in die Hand drückt. Der ältere Herr lächelt direkt.

„Oh Kinder, wenn ihr den Weg entlanglauft, werden sich noch genug Unterkünfte finden, auch wenn sie etwas teuer sind. Aber an eurer Stelle würde ich keine Unterkunft suchen, sondern mich auf das Fest konzentrieren. In den nächsten Stunden lassen sie auf dem großen Platz die Laternen steigen. Das solltet ihr nicht verpassen!" Misa beobachtet die Interaktion mit einer Mischung aus Neugier und Verwirrung. Sie blickt zu Ean und dann wieder auf den Liebesapfel in ihrer Hand.

„Ihr müsst einfach hineinbeißen", sagt Ean und macht es vor. Er beißt kräftig in den Apfel und der knackende Klang des Bisses lässt ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen. Sie zögert kurz, bevor sie es ihm nachmacht. Doch anders als bei ihm kleben ihre Hände und ihr Mund sofort nach dem ersten Biss, und der süße Saft läuft ihr über die Finger. „Oh Freya! Was ist das? Wieso schmeckt das so köstlich?", gibt sie mit vollem Mund von sich und beißt direkt nochmal rein.

Ean muss direkt schmunzeln, als er ihr zusieht. „Das sind Äpfel in Zucker getaucht, wie auch die restlichen Früchte, die da liegen." Misa schenkt Ean jedoch nicht weiter Beachtung und beglückt sich mit dem Geschmack des Liebesapfels. „Ich habe schon fast vergessen, wie köstlich Zucker ist. Wir essen ihn so wenig", murmelt sie vor sich hin, während sie weiter genüsslich in den Apfel beißt.

Als sie ihren Apfel verspeist hat, holt Ean ihr noch einen Spieß mit Erdbeeren, woraufhin sie zum großen Platz weiterlaufen, über den der ältere Herr gesprochen hat. „Wollt ihr die Laternen sehen?", fragt Ean Misa, als sie am großen Platz ankommen. Der ältere Mann hat recht gehabt. In den Gassen haben sie noch einige Unterkünfte gefunden und sie sind, wie schon erwähnt wurde, sehr teuer. Doch auch wenn die beiden sparen müssen, bleibt ihnen keine andere Wahl.

„Hast du die Laternen schon mal gesehen?", hinterfragt Misa, anstatt ihm eine Antwort zu geben. Ean nickt. „Meine Mutter hat dieses Fest geliebt", gibt er zu und ein leichtes Lächeln tut sich auf seinen Lippen auf.

„Dann muss ich es sehen", kommt es nun noch neugieriger von ihr und sie zieht ihn an der Hand mit zum Platz. Misa beginnt sich vorzustellen, wie Ean und seine Mutter wohl gemeinsam hier ausgesehen haben. Hat er auch ein Kimono getragen? Wahrscheinlich war Seraphine auch bei ihnen.

Misa hat Eans Mutter nie gesehen. Sie weiß, dass sie gestorben ist, als Ean noch sehr jung war. Er spricht selten über sie und Misa möchte ihn nicht mit ihren Fragen bedrängen. Also lässt sie es auch diesmal sein.

Der große Platz ist voller Menschen, die alle gespannt auf die Laternen warten. Einige halten bereits Laternen in den Händen, bereit, sie in den Himmel steigen zu lassen, während andere das Spektakel aus der Ferne beobachten. An der Seite sitzen Musiker und spielen zusammen eine wunderschöne Melodie, die die Stimmung noch viel angenehmer macht.

„Wartet einen Moment hier", bittet Ean Misa und sie realisiert erst in dem Moment, wo er loslässt, dass sie ihn den gesamten Weg an der Hand gehalten hat. Ein Lächeln zieht sich auf diese Realisierung über ihr Gesicht. Sie genießt den heutigen Tag mit ihm, wie schon lange nicht mehr. Wenn sie diesen Moment für immer einfangen könnte, würde sie es tun. Alles hinter sich lassen und diesen Tag, immer wieder aufs Neue erleben.

Die Laternen beginnen langsam, in den Himmel zu steigen, als Ean noch immer nicht zurück ist. Misa beginnt, sich Sorgen zu machen. Aber es ist Ean, dem kann doch nichts zugestoßen sein. Oder doch? Ihr Herz schlägt schneller und ihre Augen suchen unruhig die Menge ab.

Nichts Auffälliges fällt ihr auf, bis sie plötzlich einen warmen Atem in ihrem Nacken spürt. Gleichzeitig drückt sich etwas Kaltes und Scharfes gegen ihre Taille. Ihr Herz rast und sie unterdrückt einen Schrei, unfähig, nach ihrem Schwert zu greifen. Es ist bereits zu spät.

„Du wirst jetzt ruhig mit gehen und dir wird nichts zustoßen", flüstert eine raue Stimme dicht an ihrem Ohr. Der Unbekannte zieht sie aus der Menge in eine dunkle, menschenleere Gasse. Ihr ganzer Körper zittert vor Angst und Ungewissheit. Misa versucht, ruhig zu bleiben, aber ihr Atem geht stoßweise. Wo ist Ean? Sie hat Angst, dass er es diesmal nicht schafft, sie zu retten, und in diesem Fall ist das nicht schwer.

Verzweifelt überlegt sie, alles zu riskieren und nach ihrem Schwert zu greifen. Doch die Worte „Schlaft gut" lassen sie innehalten. Plötzlich wird ein Tuch über ihren Mund und ihre Nase gedrückt. Ein süßlich stechender Geruch erfüllt ihre Sinne und Misa spürt, wie die Welt um sie herum verschwimmt. Ihre Glieder werden schwer und eine Müdigkeit überkommt sie.

Panik macht sich in ihr breit, doch sie kann nichts dagegen tun. Ihr Bewusstsein entgleitet ihr, die Dunkelheit verschlingt sie und mit einem letzten flüchtigen Gedanken an Ean schließt sie ihre Augen und sinkt in eine tiefe, traumlose Ohnmacht.

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