ZWEIUNDDREIßIG

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Schnell die Tränke vor der Abreise eingenommen, sind die beiden dabei, sich aus der Stadt zu schleichen. Die Stadt ist in Feierstimmung und die Geräusche des Feuerwerks und der betrunkenen Feiernden helfen, ihr Entkommen zu verschleiern. Misa und Ean bewegen sich schnell und gezielt durch die verwinkelten Straßen von Velar. Sie halten sich im Schatten und meiden die Hauptstraßen, um keine Aufmerksamkeit zu erregen.

Als sie an einem belebten Platz vorbeikommen, ziehen sie ihre Kapuzen tief ins Gesicht und mischen sich kurz unter die Feiernden, bevor sie in eine weitere dunkle Gasse abtauchen. Ihr Ziel ist eines der weniger bewachten Tore der Stadt. Der südliche Ausgang wird oft von Händlern und Lieferanten genutzt und sie hoffen, dass das Chaos der Feierlichkeiten ihnen genug Deckung bietet. Sie nähern sich dem Tor und Misa kann die Wachen sehen, die durch die Aufregung abgelenkt sind. Ean ist sich sicher, dass der Wachen Wechsel in dieser Nacht ihnen die Flucht erleichtern wird.

Mit einem leisen Nicken gibt Misa Ean das Zeichen, sich bereitzuhalten. Sie warten geduldig im Schatten, bis die Wachen sich ablenken lassen. In dem Moment, in dem sich die Gelegenheit bietet, schlüpfen sie durch das Tor und in die Dunkelheit der Nacht hinaus. Kaum haben sie die Stadtmauern hinter sich gelassen, spüren sie die kühle Luft der Freiheit. Doch Misa weiß, dass sie noch lange nicht sicher sind. Sie bleiben nicht stehen, sondern bewegen sich schnell weiter durch die umliegenden Wälder.

Als der erste Hauch von Morgengrauen den Himmel erhellt, haben es die beiden mittlerweile aus der Stadt geschafft. Misa zwingt Ean sofort dazu, sich das Konzentrat auf der Haut zu verteilen, um ihre ursprüngliche Gestalt wieder anzunehmen. Mit zitternden Händen trägt er die Substanz auf, und innerhalb von Minuten verschwinden die veränderten Züge, und ihre wahren Gesichter kommen zum Vorschein.

Wie erwartet, nehmen die beiden wieder ihre ursprüngliche Gestalt an. Misa atmet erleichtert auf. Jetzt, in ihrer vertrauten Erscheinung, fühlen sie sich sicherer, auch wenn die Gefahr noch lange nicht gebannt ist.

Misa ist sich sicher, dass sie gesehen wurden, wie sie das Haus in ihrer verunstalteten Gestalt verlassen haben. Die Menschen in Velar mögen sich an ihre entstellten Gesichter erinnern und sobald die Nachricht von Ajax' Tod die Runde macht, wird niemand nach zwei normalen Gestalten suchen.

Sie weiß jedoch auch, dass, wenn die Leiche gefunden wird, die beiden schon weit weg von Velar sein müssen. Sie dürfen keinen Moment zögern. Die Entdeckung des Mordes an Ajax wird die Stadt in Aufruhr versetzen, und sie werden verfolgt werden. Jede Minute zählt, und sie müssen so viel Abstand wie möglich zwischen sich und Velar bringen.

Mit entschlossenen Schritten führt Misa Ean weiter, ihre Gedanken kreisen um das, was vor ihnen liegt. Die Schuld und Trauer in Eans Augen brennen sich in ihr Gedächtnis ein. Sie müssen überleben. Sie müssen weitermachen.

Ean spricht seit der Abreise kein Wort mehr mit Misa. Er ignoriert sie und widmet ihr nicht einmal einen Blick. Misa fühlt sich schuldig, nicht zu trauern, doch irgendwas in ihr lässt es nicht zu.

Sie mochte Ajax, keine Frage. Aber sie kannte ihn nicht lange genug. Sie will weinen, schreien, doch sie kann nicht. Stattdessen empfindet sie bloß Wut.

Es ist nur Wut und Enttäuschung, die in ihr brodelt. Sie will Seraphine alles nehmen, was sie besitzt und jemals besitzen wird. Aber nicht wegen Ajax, sondern weil Ean nun darunter leiden muss. Sie fühlt sich schlecht, so herzlos zu reagieren, doch sie muss an erster Stelle an Ean und sich denken. Ihre einzige Hoffnung ist, dass er dies irgendwann verstehen wird.

Als sie endlich an einem sicheren Ort Rast machen, beobachtet Misa Ean aus der Ferne. Sein Gesicht ist leer, seine Augen starr. Es ist, als wäre ein Teil von ihm mit Ajax gestorben. Misa wünscht sich, sie könnte ihm helfen, ihn trösten, doch sie weiß, dass Worte nicht ausreichen werden.

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